27.12.2008

Die zwölf heiligen Nächte in postmodernen Zeiten. Über einen Eichelhäher

In den Nächten zwischen Weihnachten und Dreikönig, so besagt die Tradition, stehen die Türen zur geistigen Welt offen. Deswegen wird von den „heiligen“ Nächten gesprochen. In dieser Zeit wäre es besonders wichtig auf die Träume & Stimmungen & Eingebungen, die wir aus der Nacht bekommen, zu achten. Es ginge vor allem auch darum, offen für Unerwartetes zu sein.

In einigen östlichen Ländern wird von der „ungetauften“ Zeit gesprochen, weil das Kind Jesus erst mit der Ankunft der drei Könige (eigentlich Magier, oder vielleicht sogar „Wissenden“) getauft wird. Auch gibt es Gegenden wo interessanterweise von den zwölf „rauen“ Nächten gesprochen wird. Ein sehr schönes Bild – ich weiß leider nicht woher es kommt – ist das, in dem die Zeit der zwölf Nächte als „die Fontanelle des Jahres“ beschrieben wird.

Zwischen Weihnachten und Dreikönig sind wir im Kommen. Das Kindliche ist erschienen, das Licht wird wieder stärker, und in der Mitte dieser Zeit erleben wir den „Rutsch“ ins neue Jahr. Und offensichtlich gibt es eine enge Verbindung zwischen „neu“ und „geistig“. Dadurch, dass die Türen zur geistigen Welt geöffnet sind, können wir über unsere Träume & Stimmungen & Eingebungen eine bewusste Beziehung zum Kommenden finden.

Was ist hier mit „geistig“ gemeint? Friedrich Nietzsche würde an dieser Stelle dieses Wort gerade nicht benutzen und eher von dem „Ungeheuren“ sprechen. Er meinte damit das große Unbekannte, den riesigen Ozean der nicht eingeordneten Empfindungen, die tausend und abertausend Rätsel der Welt und des Lebens, die uns umschlingen. Gerade wenn ein kleines bisschen Licht da herein kommt, wird das Ungeheure sichtbar. (Das Licht wirft Schatten – tatsächlich ein rauer Vorgang.)

Auch Martin Heidegger würde das Wort „geistig“ vermeiden. Er würde sagen: was wir vom Leben meinen zu verstehen, erklärt uns das Sein nicht. Die Differenz zwischen dem Sein und dem Seienden (= was wir meinen für uns eingeordnet zu haben) eröffnet einen Abgrund. Und das Erleben dieses Abgrundes führt zur Philosophie oder Kunst oder Religion. (Die großen Drei: das Wahre, das Schöne, das Gute.)

Hannah Arendt hingegen würde sagen: wir betreten das Geistige & das Ungeheure & das Abgründige dadurch, dass wir auf Natalität setzen. Der Mensch hat nicht nur die Sicherheit, dass er sterben wird – er hat auch die Sicherheit, dass er jeden Tag wieder neu geboren werden kann. Das geschieht aber nicht von alleine. Gerade dadurch, dass er sich aktiv anfreundet mit dem Im-Kommen-sein und sich diesbezüglich als Schöpfer der Welt versteht, ist er Mensch.

In postmodernen Zeiten wird das Kind (in uns, in der Welt) nur geboren, wenn wir es wollen. Ja, ein erster Schritt bleibt: lauschen & lauschen & lauschen was das Ungeheure & das Abgründige & das Geistige uns zu sagen haben. Besonders während der zwölf heiligen Nächte bleibt deswegen die schöne und freiwillige Aufgabe, auf unsere Träume & Stimmungen & Eingebungen zu achten.

Genau so wichtig sind aber die Vorsätze & Entscheidungen. Oder anders gesagt: das Ungeheure & das Abgründige & das Geistige lässt uns keine Zeit zwischen lauschen & sprechen, verstehen & handeln zu trennen. Ein richtig verstandener Traum ohne einen Vorsatz oder eine Entscheidung, ist eine Illusion. (Ja klar, auch Illusionen brauchen wir!)

Als ich heute früh aufwachte und mich an meinen Schreibtisch setzte, erschien nach einer Weile in meinem Garten ein Eichelhäher. Er war scheu wie ein Botschafter der Nacht. Einen kurzen Moment saß er auf einem Geländer, etwa zwei Meter von meinem Fenster entfernt. Er guckte & guckte – sein stolzer Kopf zick-zackte hin und her, so wie nur Vögel das machen können. Und ich dachte: er will nur sicher sein, dass ich ihn wahrgenommen habe. Dann flog er wieder fort.

Eichelhäher gab es auch in Arnheim, wo ich aufgewachsen bin. In Holland heißen sie „Vlaamse gaaien“, also etwa: Häher aus Flandern. Ich habe das als Kind lange so verstanden, dass der Vlaamse Gaai tatsächlich in Flandern lebte, und - warum auch immer - gelegentlich nach Arnheim kam, um mich zu begrüßen. Ein bisschen verwirrend war immer, dass er sofort wieder verschwand.

Noch immer ist es so, dass ich an Belgien denken muss, wenn ein Eichelhäher auftaucht. Und auch ist es noch immer so, dass ich mich geehrt fühle, weil dieser wunderschöne & stolze Vogel eine lange Reise gemacht hat, um gerade mich zu begrüßen. Und auch ist es noch immer so, dass ich denke: schade, dass er sofort wieder weiter fliegt.

Vögel die uns begrüßen, sind Botschafter der Nacht. Und heute denke ich: der Eichelhäher erinnert mich daran, dass es mich freut zu merken, dass ich begrüßenswert bin. Ich mag es, begrüßenswert zu sein. Wäre das nicht ein guter Vorsatz für das nächste Jahr: begrüßenswert zu sein? Was das beinhaltet, überlässt der Eichelhäher mir. Ich soll das von mir aus gestalten.

(Und vielleicht wird nächstes Jahr mal eine Eule kommen, um zu schauen, was ich daraus gemacht habe.)

22.12.2008

TEXT MIT TITEL

Dieser Text handelt von diesem Text, den ich gerade schreibe. Über diesen Text wäre jetzt schon zu sagen, dass er selbstverständlich Wörter beinhaltet, und dass das Thema des Textes der Text ist. Auch ich bin in diesem Text vorhanden, weil ich geschrieben habe: „Dieser Text handelt von diesem Text, den ich gerade schreibe“.

Der Anzahl der Wörter dieses Textes beträgt gerade vierundfünfzig. Und jetzt sind noch neun dazu gekommen. Der Leser befindet sich bezüglich der Anzahl der Wörter in einer anderen Lage als ich, der Verfasser, weil er mit einem Augenaufschlag sehen kann, dass noch mehrere Wörter folgen – bei mir ist der Rest der Seite noch leer.

Für uns beide, für mich und für den Leser, ist der Text im Kommen. Wir beide sind gerade da wo wir sind, nämlich an dieser Stelle, hier und jetzt, und kreieren den Text. Der Text existiert nicht ohne mich (klar: ich verfasse den Text) und den Leser (klar: ein Text, der nicht gelesen wird, ist kein Text).

Aber genau so klar: Ohne Wörter kein Text.

Die Wörter dieses Textes kommen in mir hoch. Sie erscheinen. Manchmal muss ich erst suchen – ich warte dann beim Schreiben, schaue aus meinem Fenster und sinne nach. Ich prüfe die Wörter, die sich anbieten, lasse manche wieder los, entscheide mich. Jetzt entscheide ich mich für „Vögel“, und schreibe: die Wörter sind wie Vögel, die angeflogen kommen.

Der Leser liest also: die Wörter sind wie Vögel, die angeflogen kommen. Und er kreiert den Text dadurch, dass er sich die Wörter wie Vögel vorstellt: sie kommen angeflogen... Vielleicht denkt der Leser noch dazu: „Erst wenn die Vögel sich auf die Fensterbank setzen, erscheinen sie definitiv im Text“. Das wäre eine wunderschöne Erweiterung des Bildes.

Diese Erweiterung des eben entstandenen Bildes habe ich aber jetzt selber kreiert. Zu diesem Text gehört also auch die Tatsache, dass ich mir als Verfasser vorstelle, was der Leser denken könnte und seine möglichen Vorstellungen in den Text einbringe.

Und so ist es: der Leser ist immer da. Wenn ich das Spielfeld des Textes mit den zehn Wörtern öffne: „Dieser Text handelt von diesem Text, den ich gerade schreibe“ (der Text zitiert sich jetzt selber!), stelle ich mir sofort vor, was der Leser denken & fühlen & wollen könnte. Denkt er: „Na ja, ein komischer Satz!“? Fühlt er: „Der Satz ist mir unsympathisch!“? Und will er trotzdem weiter lesen?

(Wenn der Leser es will, hört er jetzt auf. Oder jetzt. Oder jetzt... Wenn der Leser tatsächlich aufhört, bleibt der Text unvollständig.)

Der Leser existiert natürlich nicht. Es wird – aus meiner Sicht als aktueller Verfasser gesehen – eine Menge Leser geben, vielleicht hundert, vielleicht dreihundert, vielleicht tausend. Und ich habe keine Ahnung davon, was die Leser denken & fühlen & wollen werden. Trotzdem ist es eine Tatsache, dass es – aus meiner Sicht als aktueller Verfasser gesehen – einen ganz bestimmten Leser gibt, der wie ein Vogel auf der Fensterbank erschienen ist, als ich den ersten Satz geschrieben habe.

Dieser Leser ist eine Leserin. (Das ist unterschwellig auch ein Thema in diesem Text: die deutsche Sprach-Gewohnheit von LeserInnen zu sprechen. Ich muss jetzt an Franz Müntefering denken, der in seinen Reden ständig korrekt sagt: Liebe Genossinnen und Genossen... In holländischen und englischen Ohren klingt das so, als ob der Unterschied zwischen Frauen und Männern immer wieder betont werden muss.)

Also, eine Leserin. Nur halbwegs verstehe ich, warum gerade sie auftauchte, als ich geschrieben habe: „Dieser Text handelt von diesem Text, den ich gerade schreibe“. Sie ist eine junge Waldorferzieherin (sic!), beschäftigt sich gerne mit philosophischen Lebensfragen, kann richtig-richtig denken und mag alles, was mit Sprache zu tun hat. Und weil der erste Satz dieses Textes vor allem auf der semantischen Ebene interessant ist – er bezieht sich solipsistisch auf sich selber – habe ich an sie gedacht. Sie könnte eine Leserin sein, die Spaß an diesem Satz hat. Ich nenne sie für heute Virginia (ja, wegen Woolf).

Dieser Text ist also eine Art Dialog. Der Anfang des Dialogs liegt in der nachdenklichen Stille nach dem ersten Satz. Die zwei Gesprächspartner (?) des Dialogs heißen Virginia und „ich“. Wer ist mit „ich“ gemeint? Es liegt natürlich vor der Hand zu denken, dass „ich“ sich auf „mich“ bezieht, das heißt auf „Jelle van der Meulen“. Das stimmt aber nicht. Ich nenne dieses Ich nämlich für heute Samuel (ja, wegen Coleridge).

Das oben gemeinte „ich“ ist ein Aspekt von mir, ein Subjekt, das immer wieder entsteht, wenn „ich“ („Jelle van der Meulen“) einen Text schreibe. Ich bin aber nicht ich, ich bin ja mittlerweile Samuel geworden, weil ich (Jelle? Samuel?) mich eben gerade so genannt habe. Und so ist das mit diesem und mit vielen anderen Texten: sie kreieren verzwickte Bedeutungen. Samuel Taylor Coleridge nannte das: Poesie.

Mit Dank an Sophie Pannitschka

20.12.2008

Behinderung als Schicksal (3). Über Fähigkeiten & Begabungen

Was ist eine Behinderung? Ich würde sagen, dass man behindert ist, wenn man etwas nicht tun kann, was weitaus die meisten anderen Menschen können. Wenn jemand zum Beispiel nicht sehen oder hören oder gehen kann, hat sie oder er eine Behinderung. Das gilt genauso für die „mentalen“ und „sozialen“ Fähigkeiten (englisch: faculties): es gibt Menschen die nicht denken, oder fühlen, oder wollen, oder sprechen, oder Gewohnheiten einschätzen, oder hinter-die-Wörter hören können. Auch diese Menschen sind behindert.

Bin ich behindert? Nach meiner Beschreibung nicht. Es gibt nichts, was ich nicht tun kann, was weitaus die meisten Menschen tun können. In dieser Hinsicht bin ich „normal“. Trotzdem gibt es ein paar Sachen, die ich sehr-sehr-sehr gerne tun möchte, wozu ich aber leider nicht die Fähigkeiten habe. Viel Schmerz hat mir zum Beispiel die Tatsache bereitet, dass ich nicht richtig Musik machen kann.

Musik bedeutet mir alles. Genauso wie Friedrich Nietzsche kann ich mir ein Leben ohne Musik gar nicht vorstellen. (Nein, Richard Wagner habe ich nie gemocht. Meine Helden heißen Beefheart & Zappa & Coltrane & Davis & Co.) In meiner Seele gibt es ein Zimmer, in dem ich mit mir & für mich so ungefähr alles „unbehindert“ machen & improvisieren kann, was es zu machen & zu improvisieren gibt: Rock & Blues & Jazz. Ich schaffe es aber ganz & gar nicht, diese innere Musik auch äußerlich hörbar zu „produzieren“. Wenn ich Gitarre spiele oder singe, klingt es unbeholfen.

Und das erlebe ich als eine Behinderung. Die innere Musikalität lässt sich aus irgendeinem Grund nicht nach außen umsetzen. (Ich würde sagen, weil mein Körper nicht mitmacht.) Von einer Behinderung kann diesbezüglich aber nicht gesprochen werden, weil ja weitaus die meisten Menschen diese Fähigkeit gerade NICHT haben. Wenn jemand richtig Musik machen kann, sprechen wir deswegen von einer Begabung.

Behinderung und Begabung haben etwas gemein. Sie sind beide nicht „normal“.

Bernard Lievegoed, der Pionier der anthroposophisch-heilpädagogischen Bewegung in Holland, erzählte mir einmal, dass er sehr-sehr-sehr gerne Musiker geworden wäre. (Seine Helden waren eher Bach & Brahms & Schubert.) Weil er aber nicht richtig musizieren konnte, hat er realistischerweise darauf verzichtet. Und deswegen, so meinte er, hat sich seine Orientierung verschoben und er hat sein Leben der Anthroposophie gewidmet. Der zwangsläufige Verzicht auf Musik öffnete ihm also den Weg zur Geisteswissenschaft. Und niemand wird bestreiten, dass Lievegoed als Anthroposoph sehr begabt war.

Eine Behinderung ist also als ein „zwangsläufiger Verzicht“ zu betrachten. Nun ist dieser doppelte Begriff natürlich widersprüchlich, weil ein Verzicht eine Wahl bedeutet und deswegen nicht ganz zwangsläufig sein kann. Ein Mensch der nicht gehen, denken oder sprechen kann, hat sich dafür nicht entschieden und ist ja eher, wie Martin Heidegger sagen würde, in den Umstand der Behinderung „geworfen“ worden.

Entscheidend für das anthroposophische Denken über Behinderung ist aber gerade der Gedanke, dass ein Entschluss vorliegt, der allerdings vor der Geburt getroffen worden ist. Laut Rudolf Steiner gestaltet der Mensch sein eigenes Leben – er wirft sich selber in die spezifischen Umstände seines Lebens. Warum? Weil er dadurch zu spezifischen Fähigkeiten & Begabungen & Eigenschaften gelangt. Dadurch, dass wir uns nach der Geburt nicht bewusst an den vorgeburtlichen Entschluss erinnern können, erleben wir die Umstände unseres Lebens als zwangsläufig.

(Die einzige Erinnerung die da ist, nennen wir „Ahnung“. Wir spüren, dass gewisse Umstände etwas mit uns zu tun haben, d.h. nicht willkürlich auf uns zu kommen. Interessant an dieser Stelle ist, dass Steiner die Ahnung, genauso wie Plato, als eine wichtige Tür-zum-Wissen versteht. Seinen Ahnungen nachzugehen & sie zu untersuchen & zu prüfen führt, laut Rudolf Steiner, zu einem Wissen-von-sich-Selbst. In einer Kultur des Herzens werden Ahnungen ernst genommen.)

Noch ganz abgesehen davon, ob wir uns mit dem Gedanken eines vorgeburtlichen Entschlusses anfreunden können, scheint mir eine fruchtbare Frage zu sein: Wenn jemand nicht gehen, oder nicht sprechen, oder nicht denken kann, oder nicht ... zu welchen Fähigkeiten & Begabungen & Eigenschaften führt denn das? Könnte diesbezüglich eine Art Phänomenologie der Wirkungen der Behinderungen entstehen, die unsere Bewertungen vom defizitären Denken befreit?

Eine Phänomenologie der Wirkungen von Behinderung könnte nur aus konkreten Beschreibungen bestehen. Ich meine, dass ein paar von solchen Beschreibungen schon in den Kommentaren zu meinen zwei Blogs der letzten Wochen zu finden sind. Ich würde mich freuen, wenn noch mehr Erfahrungsberichte folgen.

13.12.2008

Behinderung als Schicksal (2). Über die stumme Sprache

Mein Bruder Mark ist gelähmt & lebt im Rollstuhl. Sprechen kann er kaum. Er kann „Koffie“ sagen, und meint damit, dass er gerne eine Tasse Kaffee hätte. Auch sagt er klar „ja“ & „nein“, nennt manche Menschen bei ihrem Vornamen, und macht klipp und klar deutlich, dass er jetzt abhauen möchte. Ein herkömmliches Gespräch ist mit Mark nicht möglich.

Weil er gelähmt ist, ist auch seine Körpersprache beschränkt. Seinen Gang kennen wir nicht, weil er nicht laufen kann. Er bewegt seinen linken Arm nur, um etwas in die Hand zu nehmen, zum Beispiel ein Stück Kreide. Wenn er „Koffie“ oder „ja“ oder „nein“ sagt, sprechen sein Arm und seine Hand kaum mit.

Aber sein Kopf spricht. Die Art und Weise mit der Mark sein Haupt schief nach vorne oder schief nach hinten biegt, wirkt so, als ob er intensiv lauscht. Manchmal schaut er lange nach oben, scheint zu lauschen & zu lauschen – und ich denke dann: was hört er eigentlich? Und dann trifft er eine Entscheidung, macht sich von dem Lauschen los und biegt sich nach vorne. Genug gelauscht?

Sein Lauschen bezieht sich nicht auf die Geräusche um ihn herum. Er scheint nicht auf den Klang der Stimmen, des Fernsehens oder des Kommens & Gehens der Menschen zu hören. Er scheint in sich hinein zu hören, wobei dieses in-sich-hinein-hören nicht ein nach innen, sondern ein nach außen hören bedeutet. Es ist, als ob sich seine Innenwelt nach außen gestülpt hat und wie eine glänzende Glasglocke um ihn herum befindet.

Sein Kopf spricht eine Sprache, die mich sprachlos macht. Und das gilt noch stärker für seinen Blick. Wenn ich versuche in Worte zu fassen, was in seinen Augen lebt, stelle ich fest, dass die üblichen Worte nichts sagen. Gibt es Unruhe in seinem Blick? Nein. Ruhe? Auch nicht. Wut? Gar nicht. Zufriedenheit? Auch nicht. Freude? Nein. Kummer? Nein.

Wenn es ein Wort gibt, dass die Wirkung seines Blickes halbwegs beschreibt, wäre es: Frage. Mark schaut wie er lauscht: wie eine offene Frage. In seinem Blick erscheint eigentlich gar nichts Bestimmtes – obwohl er bestimmt etwas Bestimmtes sieht, so wie ein Stück Kreide. Es ist aber so, als ob die Gegenstände in seinen Augen verschwimmen, peripher werden, in einem Umkreis aufgehen und „weg projektiert“ werden.

Sein Blick scheint etwas zu suchen, was auf der Ebene der Gegenstände nicht zu finden ist. Es mag unwahrscheinlich klingen: sein Blick sucht Zusammenhänge & Verbindungen & Korrespondenzen, die nur sichtbar werden, wenn man auf Kontur verzichtet. Und gerade im Akt des Verzichts hat sein Blick eine kräftige Präsenz. Der Blick ist da – und immer wieder muss man ihm in die Augen schauen und sich fragen: was sieht er, was erlebt er, was bewegt ihn?

So sieht sein Blick in meinen Augen aus. Nun ist die Frage, inwieweit meine Wahrnehmungen & Gedanken & Gefühle wirklich etwas mit Mark zu tun haben. Manchmal denke ich: Jelle, du spinnst, wenn du so etwas denkst & sagst & schreibst. Die Gedanken, die du an deinen „Beobachtungen“ fest machst, sind reine poetische Spekulationen.

(Nun bezieht sich diese Frage natürlich nicht nur auf Mark. Ganz generell ist die Frage: wenn ich auf eine menschliche Gestalt schaue & wenn ich versuche einen Blick zu „lesen“ - inwieweit dringe ich dann wirklich zu einem Menschen vor? Ist an dieser Stelle die phänomenologische Vorgehensweis berechtigt? Oder bilde ich mir lediglich etwas ein?)

Was allerdings bleibt, ist Marks Blick. Ich kann nicht darum hin, dass es diesen Blick gibt. Und ich kann auch nicht verneinen, dass der Blick mich immer wieder trifft, oder besser gesagt: nicht trifft und deswegen trifft. Sein Blick erscheint mir wie ein Rätsel. Die Tatsache, dass Mark mir nicht in Worten mitteilen kann, was in ihm vorgeht, trägt noch an das Rätsel bei. Ich kann ihn nicht fragen, was in seiner Innenwelt vorgeht.

Übrigens hat es seltene Momente gegeben, in denen sein Blick mich wirklich getroffen hat & er meinen Blick sozusagen „erwidert“ hat. In diesen Momenten erlebte ich das Rätsel-der-offenen-Frage wie gesteigert & nicht überschaubar vertieft, ja unerträglich präsent. In diesen Momenten musste ich meinen Blick abwenden. In meiner Innenwelt erzeugte dieser Blick eine tiefe Berührung. Der einzige Gedanke den ich hatte, war: „Etwas in diesem Blick ist da, was sich nicht Mark nennt“.

So lange ich auf Worte angewiesen bin, bleibt Marks Innenwelt ein geschlossenes Buch für mich. Mit Walter Benjamin: Um Innenwelten zu verstehen, müssen wir uns der stummen Sprache zuwenden. Benjamin meinte aber auch, dass wir in der modernen Zeit verlernt haben, die stumme Sprache zu lesen & zu verstehen & in Worte zu fassen.

Behinderung und Sprache ist ein großes Thema. Manche behinderte Menschen – so wie auch mein Bruder Mark – stoßen uns in die Sprachlosigkeit. Und weil wir die stumme Sprache nicht lesen können, erscheint vor uns ein Abgrund. Und der Abgrund – das scheinbar bedeutungslose Nichts – macht Angst. Ich meine, dass eine Kultur des Herzens gerade dort beginnt, wo wir anfangen über Sachen zu sprechen, über die wir nicht reden können.

Mit Dank an Sophie Pannitschka für die Korrektur

07.12.2008

Behinderung als Schicksal (1). Über so und nicht so

Ich habe zwei behinderte Brüder. Als der erste, er heißt Mark, geboren wurde, war ich fünfzehn Jahre alt. Der zweite, Martijn, kam ein paar Jahre später auf die Welt, als ich gerade auf dem Weg war, mein Elternhaus zu verlassen. Mark ist gelähmt: er kann die rechte Hälfte seines Körpers nicht benutzen und verbringt sein Leben im Rollstuhl. Er spricht keine zusammenhängenden Sätze und scheint sich seines Zustands nicht bewusst zu sein.

Erste Frage: Ist es wirklich so, dass er keine Ahnung von sich hat? Wie stellen wir das fest?

Mein zweiter behinderter Bruder, Martijn, hat das Down-Syndrom. Er ist durchaus glücklich, arbeitet in einer „Stadtfarm“ in Utrecht und hat schon lange eine Freundin. Manchmal kann er sehr launisch sein. Als vor zwei Jahren meine Mutter starb, weigerte er sich zur Beerdigung zu kommen, weil er meinte, dass sie nicht hätte sterben dürfen.

Mark und Martijn sind die jüngsten von insgesamt acht Kindern. (Ich bin der Älteste.) Vor allem die Geburt Marks war ein Bruch in meinem Leben. Auf einmal wurde mir deutlich, dass das Leben nicht immer zu stimmen scheint. Ich erinnere mich noch deutlich daran, wie Mark kurz nach der Geburt in seiner Wiege lag. Sein rechtes Händchen lag unmöglich gedreht auf der Decke, und die Züge seines Gesichts sahen aus wie eine schief gezogene Maske. Ich war erschüttert.

Und meine Eltern waren ratlos. Mein Vater war streng evangelisch, meine Mutter eher locker religiös - beide konnten aber nicht verstehen, was Gott mit Mark vorhatte. Weil Gott keine Fehler machen kann, konnte es nur um eine Strafe gehen. Wen aber betraf diese Strafe? Meine Eltern? Oder Mark? Falls es sich um Mark handelte, wofür wurde er dann bestraft? Und falls es um meine Eltern ging, war Mark dann ein reines „Instrument“ um seine Eltern zu treffen?

Diese Fragen waren nicht zu beantworten. Und so bin ich ein paar Jahre später ausgezogen: mit Fragen die nicht zu beantworten waren. Bei mir hatten diese Fragen aber nichts mit Religion und Moral tun. Gott hatte ich abgehakt und Moral war sowieso nicht mein Ding. Ich stellte mir damals eher die Frage, warum Behinderung uns erschüttert.

Körperliche und seelische Behinderungen werden als Ausnahme verstanden. Jemand der behindert ist, gilt als nicht normal. Um aber sagen zu können, was normal und was nicht normal ist, braucht man eine Norm. Offensichtlich beruht der Gedanke der Abnormalität auf der unmittelbaren Erfahrung, dass die meisten Menschen SO und NICHT SO sind. Aus irgendeinem Grund scheint es wichtig zu sein, SO zu sein, wie die meisten Menschen sind.

Dazu kommt, dass der Begriff Behinderung oft lediglich in einem medizinischen Zusammenhang gedacht wird: heilpädagogisch oder psychiatrisch. Behinderte Menschen müssen deswegen betreut, versorgt und – wenn möglich – behandelt werden. Mein Bruder Mark lebt in einer sozial-“therapeutischen“ Einrichtung (und kriegt jeden Tag heftige Medikamente, die dafür sorgen, dass er keine „Anfälle“ kriegt).

Letztendlich aber scheint mir Behinderung eher eine allgemein menschliche Frage zu sein, oder wenn man will: eine kulturelle, soziale oder anthropologische. Mit dem medizinischen Blick kommt man deswegen nicht weit, weil eine wichtige Frage ausgeklammert wird: in wie weit tragen unsere Vorstellungen & Erwartungen-vom-Leben dazu bei, dass wir ein bestimmtes Phänomen als „krank“ bezeichnen?

Zweite Frage: Wie kann es überhaupt sein, dass „etwas“ in dieser Welt als „verkehrt“ oder „daneben“ verstanden wird?

Medizinische Testverfahren machen es möglich, ab der zehnten Schwangerschaftswoche festzustellen, ob beim ungeborenen Kind das Down-Syndrom vorliegt. Laut statistischer Untersuchungen entscheiden sich in solchen Fälle weltweit achtzig Prozent der Eltern für eine Abtreibung. In den europäischen Ländern dürfte diese Zahl noch höher sein. Und das heißt, dass Menschen mit einem Down-Syndrom aus zu sterben drohen.

Dritte & vierte & fünfte & sechste & siebente & achte Frage: Warum geschieht das? Wie kann es sein, dass glückliche-ja-oft-auch-launische Menschen nicht leben dürfen? Und nicht nur: warum geschieht das, sondern auch: warum lassen wir das geschehen? Was sagen uns diese Tatsachen über uns und unsere Gesellschaft? Und: warum tun wir uns so schwer damit, wenn Menschen NICHT SO sind? Und: welche Bedeutung haben Behinderungen für das Entstehen einer Kultur des Herzens?

(Ich werde versuchen diese Fragen in den nächsten Monaten weiter aufzugreifen. Reife und unreife Reaktionen & Kommentare & Erfahrungsberichte wären sehr hilfreich.)

04.12.2008

Noch einmal über Christine Ballivet. Spuren hinterlassen

Heute erreichte mich der folgende Text von Sophie Pannitschka:

"Gestern Nachmittag haben Freunde, Kollegen, Familienangehörige und geistige Mitstreiter Christines irdische Hülle in Gex in der Familiengruft Ballivet beigesetzt. Viele waren zum Trauergottesdienst in die kleine französische Stadt in der Nähe von Genf gekommen und die kalte katholische Kirche war erfüllt von der Stille und Wärme der berührten, betroffenen und nachsinnenden Menschen. Nach der Aussegnung bewegte sich der lange Zug der an Christines Tod Anteilnehmenden durch das Städtchen bis zum Friedhof. Dort gab es einen letzten Abschied - dann wurde der Sarg in die Gruft eingelassen."

"Bei einem nachfolgenden Zusammensein erklangen viele Stimmen - von physisch oder geistig Anwesenden - die sich über Christine äußerten und von faszinierenden Begegnungen berichteten. Vertreter verschiedenster Kreise und Arbeitsfelder waren anwesend und machten die lebendige Vielfältigkeit von Christines Tätigkeitsfeldern sichtbar. Grüße, Texte, Gedichte und Berichte wurden in verschiedenen Sprachen verlesen. Erinnerungen wurden erzählt und das große soziale, geistige und spirituelle Netz um Christine wurde erlebbar."

"Christine hat Spuren hinterlassen und Menschen bewegt. An vielen Orten hat sie, ob ihrer Fähigkeit zu denken und sich gedanklich einzubringen, einen Eindruck hinterlassen. Dank Christine berühren und überschneiden sich Kreise - ihre irdischen Spuren werden geistig weiterführen."

"Am Ende der Zusammenkunft erhob Christines Bruder seine Stimme und offenbarte den Anwesenden, dass er seine Schwester wohl nur wenig gekannt habe, von vielem, was berichtet wurde, wusste er nichts. Tief beeindruckt, berührt und ergriffen gab er zu erkennen, dass die große Anteilnahme am Tod seiner Schwester nachhaltig Spuren in ihm hinterlasse."

30.11.2008

Christine Ballivet ist gestorben. Was mich jetzt bewegt...

Letzten Donnerstag kam die Nachricht, dass Christine Ballivet gestorben ist. Sie war in einer Sitzung in Lyon, verlor ihr Bewusstsein und konnte nicht mehr zurückgeholt werden. Und so war es mit Christine: sie war nur präsent, wenn sie es wollte.

Christine gehört zu den Menschen in meinem Leben, die mich am tiefsten beeindruckt haben. Wenn ich an Gespräche-als-Ereignisse denke, denke ich an Christine. Ob in der Kneipe in Amsterdam, in den Seminaren im „blauen Haus“ in Kirchen oder auf der Terrasse in der Drȏme, ihre Worte waren immer & immer & immer wie Lebewesen. Was sie sagte, fühlte sich an wie Tiger & Elefanten & Kolibris. Sie sagte nichts ohne Blut und Leidenschaft.

Christine war schon eine Ewigkeit krank. Aus irgendeinem Grund konnte sie nicht essen. In Amsterdam haben wir gemeinsam Tage & Tage verbracht, an denen sie nur Kaffee trinken, Zigaretten rauchen, Eis essen und dazu mit Mühe ein Keks zu sich nehmen konnte. Mehr nicht. Alles andere war zu viel, zu fett, zu beliebig, zu uneigentlich. Sie sagte: „Die Luft in der Stadt wo Rembrandt lebte, reicht mir“.

Mit Christine bin ich immer & immer in die Landschaft der Sprache eingetaucht. Sie war Französin, ich bin Holländer. Unsere gemeinsame Sprache war aber immer Deutsch. Sie konnte deutsch reden, wie eine Pianistin Gitarre spielt: nachdenklich, langsam und genau. Sie war wie Foucault, als er über Heidegger sprach: tiefsinnig verzweifelt, tastend.

Christine konnte denken. Und sie verstand, wie unmöglich schön & schön unmöglich die Menschen sind. Und sie war Anthroposophin. Ich glaube, sie war die erste postmoderne Anthroposophin, die ich kennen lernte. Ihr Denken war nicht nur von Steiner, sondern auch von Deleuze geprägt. Und weil sie postmodern war, hatte sie den Mut zum Denken. Nicht was angeblich stimmte, hat Christine überzeugt – nur was sie zusammen mit anderen denken konnte, war für sie wahr.

Dieses zusammen mit anderen denken war ihre Leidenschaft. Dieses Bewegen der Gedanken, so dass man das Gefühl hatte: der Tisch der die Aschenbecher trägt, bewegt sich mit, steigt zum Himmel oder stürzt in den Abgrund, war ihre Kraft. Oder noch anders gesagt: ihr Denken war einverleibt. Oder noch anders: sie hat gedacht, so wie die meisten Menschen essen.

Jetzt ist Christine tot. Natürlich: sie wird auf einer anderen Ebene weiter existieren. Dieser denkende & bewegende & schauende & rauchende & leidenschaftliche Mensch ist aber gegangen. Für immer. Ich werde Christine vermissen.

Voor de mensen uit Nederland: zie ook http://antroposofieindepers.blogspot.com

28.11.2008

Parzivals Weg. Über Wissenschaft und Hingabe

Der Unterschied zwischen guten und schlechten Texten liegt darin, dass gute Texte eine Form haben, die dem Inhalt entsprechen. Schlechte Texte haben eine Form, die von irgendwo hergeholt werden, dass heißt, nicht aus & mit dem Inhalt entstanden sind. Ganz bestimmte Inhalte brauchen ganz bestimmte Formen, um zu werden was sie sind, nämlich ganz bestimmte Inhalte. Und ganz bestimmte Formen brauchen ganz bestimmte Inhalte, um zu werden was sie sind, nämlich ganz bestimmte Formen.

Ich komme auf diesen Gedanken auf Grund der Veröffentlichung einer Magisterarbeit im Fachbereich Germanistik. Die Autorin heißt Sophie Pannitschka. Der Titel ihres Buches lautet: „Mitspieler werden. Parzivâls Weg – vom Mittelalter in die Postmoderne. Identitätsentfaltung im ´Roten Ritter` von Adolf Muschg“.

Ich kenne die Autorin seit dem Erscheinen von Bernard Lievegoeds letztem Buch „Über die Rettung der Seele“. In diesem Buch spielt die Gestalt von Parzival eine große Rolle. Lievegoed befreit den mittelalterlichen Ritter von der Geschichte und beschreibt ihn als einen inspirierenden Geist bis in die heutige Zeit und sogar in die Zukunft hinein. Er macht, was Esoterikern eigen ist und verleiht der Gestalt eine wesentliche (oder mit Heidegger: eigentliche) Wirkung.

Seitdem ist die Autorin von Parzival berührt. Sie macht keinen Hehl daraus. Und als sie vor der Frage stand, welchem Thema sie sich in ihrer Magisterarbeit zuwenden würde, hat sie sich für „Der Rote Ritter“ des schweizerischen Schriftstellers Adolf Muschg entschieden. In diesem Roman verarbeitet & ergänzt & ändert Muschg die mittelalterlichen Angaben von Wolfram von Eschenbach und kreiert als „postmoderner Gegenwartsautor“ seine eigene Parzivalgeschichte. „Leitmotivisch“, schreibt Sophie Pannitschka, „ist der Roman [...] von einem Dialog zwischen Wolfram und Muschg durchzogen“.

In ihrer Magisterarbeit beschreibt Sophie Pannitschka, wie die Identitäten der Romanfiguren „aus einander hervorgehen“. Im Herz der Geschichte steht klipp und klar Parzival. Beschrieben wird aber, dass seine Person Schritt für Schritt aus den diversen Begegnungen entsteht. Ohne Herzeloyde & Sigune & Gurnemanz & Kundry & Anfortas & Gawan & Trevrizent kein Parzival und schon gar kein Gralsritter. In ihrer Arbeit greift sie indirekt die übliche Vorstellung an, dass ein „Ich“ sich souverän und linear entfaltet.

Sophie Pannitschka spricht in ihre Arbeit von „sozialen Netzwerken“. Sie schaut nicht auf „Kerne“, sondern auf Konstellationen von Kernen. Und in diesen Konstellationen von Kernen gibt es erkennbare Subjekte, (die aber nicht mit „Kernen“ verwechselt werden dürfen), so wie „Ermöglichungsfiguren“, „Erkenntnisfiguren“, „Opferfiguren“, „Orientierungsfiguren“ und „Gegenfiguren“. Parzivals Identität – Inhalt und Form seines Ichs – wird als eine periphere Erscheinung dargestellt.

Die Form der Arbeit-als-Text spiegelt den Inhalt. Das fängt schon in der ersten Bewegung des Titels an: „Mitspieler werden“. Alle Beteiligten (die Leser, die Autorin) werden direkt angesprochen. Der Text hat diesbezüglich übrigens eine bemerkenswerte Widmung: „Meinem Schicksalsnetzwerk“! Interessant ist die Tatsache, dass auch das Buch-als-Ding das gemeinte Schicksalsnetzwerk intensivieren und erweitern wird. An dieser Stelle reichen Inhalt und Form einander die Hand. Was könnte ein Buch anderes sein, als ein „Bedeutungsknoten“ in einem sozialen Flechtwerk?

Ebenso wesentlich für die Struktur des Textes scheint mir zu sein, dass die Arbeit in einen Prolog und einen Epilog eingebettet ist. Wenn der wissenschaftliche Haupttext eine Tür ist, bilden Prolog und Epilog die Angeln. Für die eigentliche wissenschaftliche Arbeit sind Prolog und Epilog überflüssig. Sie schildern die persönlichen Umstände – wenn man will: die schicksalsbildenden Faktoren – die die Arbeit begleiten. Vom rein wissenschaftlichen Inhalt her, werden sie nicht gebraucht.

Im Prolog schildert Sophie Pannitschka eine Begegnung, die sie mit dem Schriftsteller Adolf Muschg hatte. Sie schreibt, dass was ihr in Muschg entgegenkam „nicht nur Kompetenz, mittelalterliche, literarische Kompetenz, sondern vor allem Hingabe“ war. Und: „Auch sein, wie unser aller Leben, ist mit dem Parzivâls verknüpft – und daraus macht er keinen Hehl“. Und im Epilog: „Ich bin, als intensive Leserin, im Laufe der Zeit ein Teil des Dialoges geworden. [...] Ich bin durch diese Tür zu mir selbst gegangen“.

Die Bedeutung von Prolog und Epilog geht über die wissenschaftliche Ebene hinaus und macht den Text zum Ereignis. Anders gesagt: durch die beiden Texte kriegt das Ganze eine gespannte Form, die mit dem gespannten Inhalt übereinstimmt. Prolog und Epilog „tun“ gerade das, von dem die Inhalte sprechen, was man tun soll.



Sophie Pannitschka: Mitspieler werden. Parzivâls Weg - vom Mittelalter in die Postmoderne. Identitätsentfaltung im „Roten Ritter“ von Adolf Muschg. Tectum Verlag, Marburg, 2008. Erhältlich im Buchhandel. Oder bei www.amazon.de

21.11.2008

Was Sammy heute Samuel sagt. Über "spocken"

Lieber Samuel, gestern bin ich raus gegangen. Ich habe gedacht: es wird mal Zeit, dass ich mir die Gegend, in der Du lebst, anschaue. Ich hatte verstanden, dass Dir die Straßen & Plätze & Ecken & Kneipen in deinem Viertel wichtig sind. Immer wieder hast Du von der stummen Sprache der Stadt geredet, von den Zeichen & Statements & Behauptungen, die laut-still von etwas ganz Bestimmtem sprechen. Ich wollte endlich mal wissen, wie die Zeichen & Statements & Behauptungen in meinen Augen aussehen.

Und Du hast recht: sie sprechen von einer Unterwelt. Schon die Namen der Bars sind wie Türen nach unten. „Furchtbar“, heißt eine Bar, und „Umbruch“ eine zweite. Und komisch: vier Namen haben mit dem Kommunismus zu tun: „Che“ & „MiG“ & „Sovjetbar“ & „Roter Platz“. Es ist, als ob die Wende von 1989 in deinem Viertel eine eigene Bedeutung hat.

Wo du lebst, so sagen die Einwohner von Köln, „bebt die Stadt“. Damit ist gemeint, dass die Musik laut ist & die Menschen in der dunklen Nacht feiern & feiern & feiern. Sie stehen beisammen, trinken Kölsch und bewegen etwas. Irgendwie scheint es mir so zu sein, dass man in deinem Viertel versucht die Wirklichkeit, die im Alltag bedeckt ist, aufzudecken.

In deinem Viertel herrscht die Allnacht. Sobald am Abend die Sonne verschwindet, erwachen in Kneipen & Ecken & Innenhöfen dunkle Gestalten zum Leben, ich würde sagen: verlassene & vergessene & manchmal unhöfliche Gesichter, die sich selber nicht kennen & keine Namen haben & deswegen „MiG“ genannt werden wollen. Nicht weil „MiG“ ein russisches Militärflugzeug ist, oh nein, die Gestalten wissen das vielleicht gar nicht – es reicht, dass der Name verboten ist, dass heißt, auf einer Verneinung basiert.

Und so erscheinen die allnächtlichen Bedeutungen in deinem Viertel über eine verdoppelte Distanz: ein Nicht-Wissen und ein Verbot. Und umgeben von diesen Bedeutungen stehen die Menschen beisammen, trinken Kölsch und bewegen etwas. Sie lassen die bebende Verneinung an sich herankommen, verstehen gar nichts davon, merken aber, dass sich etwas bewegt. Und obwohl dieses Bewegen sprachlich auf einem Nicht-Wissen & Verbot basiert, sich also in irreführende Gestalten hüllt, spüren die Menschen: wir befinden uns auf dem richtigen Weg.

Weil sie wissen, dass sich ohne Irreführung nichts bewegt.

Ich sah zwei Frauen und einen Mann. Sie standen beisammen, tranken Kölsch und bewegten etwas. Und weil ich noch immer wie ein Kind aussehe - bin ich natürlich längst nicht mehr! - haben sie nicht auf mich geachtet und einfach weiter geredet. Man braucht sich durch ein Kind nicht stören zu lassen. Meine Neugier, Samuel, war groß, weil sie intensiv gesprochen & gelacht & widersprochen haben. Als ich die drei sah, meinte ich: da ist richtig etwas los.

In der Sprache war aber gar nichts los. „Weißt du“, sagte eine Frau, „er wollte nur ficken!“ „Das glaube ich dir“, sagte die andere Frau. „Stell dir vor“, sagte die erste, „mit diesem Mann. Nie, nie, nie...“ „Oh nein“, lachte die zweite Frau, „ich kann mir gar nicht vorstellen, dass du mit diesem Mann...“ „Ich weiß nicht“, sagte die erste Frau, „wie er überhaupt auf diesen Gedanken kam. Irgendwie muss da oben in seinem Kopf etwas grundsätzlich durcheinander geraten sein.“

„Wie hieß der Typ auch wieder?“ fragte der Mann. „Spock“, sagte die erste Frau. „Spock, Spock, Spock...“ Und der Mann wiederholte: „Spock, Spock, Spock... Nun ja, ich kenne keinen Spock. Und er ist Professor?“ „Genau“, sagte die Frau, „letztes Jahr geworden. Und sein Thema ist ganz spannend: Pilze in der Großstadt“. „Macht mich richtig scharf“, sagte der Mann lachend. „Spock, Spock, Spock“, sagte die zweite Frau, „das schmeckt nach trockenem Sex.“

Also, Samuel, in der Sprache gab es gar keine Bedeutungen. Was gesagt wurde, war belanglos. Nicht belanglos war aber die Hitze, die heiße Heiligkeit, die Tack-Spock-Tack-Spock-Tack-Spock Bewegung, die knackige Verwobenheit der Worte, die Schnelligkeit, das Theater... Als ich meine Augen schloss – manchmal muss man das machen, um zu wissen, was man sieht – sah ich Folgendes:

Ich sah drei Menschen, die Bewegung suchen. Ich sah drei Menschen, die irgendwie spüren, dass hinter oder unter oder über den Worten ein Leben fließt, sich eine Kraft bewegt, ein Feuer brennt... Dort wird gehandelt, getanzt, getötet, gefickt, gegessen, getrunken, gespielt, gekämpft, ohne zu wissen warum. Oder besser gesagt: dort ist das Warum belanglos. Ich sah drei Menschen, die sehnsüchtig teilnehmen wollten an einem abgründigen Bewegen.

In deinem Viertel wird gespockt.

12.11.2008

Die letzte Novemberrose. Eine klassische Liebesgeschichte

Mein Großvater pflegte einen Garten. Er wohnte in Doesburg direkt an der IJssel, dem schönsten Fluss in den Niederlanden. Sein Garten war wie ein Paradies für mich. In meinen Kinderaugen hatte der Garten alles, was ein Garten braucht, um ein richtiger Garten zu sein: einen Apfelbaum, Tomaten, Bohnen & Bohnen & Bohnen, Himbeeren, Stachelbeeren, Erdbeeren, Salat... und rote Rosen.

Ich traute mir damals nicht zu, in den Garten zu gehen. Pflanzen & Sträucher & Bäume waren mir fremd. Jetzt würde ich sagen, dass ich meine Innenwelt – mit meinen Träumen & Phantasien & Stimmungen & Überlegungen – ganz und gar nicht mit den stillen & schweigenden & regungslosen Erscheinungen in Verbindung bringen konnte, die mein Großvater so liebte. Die Pflanzen sollten mir selber nicht zu nahe kommen. Übrigens: mit Blumen hatte ich diese Befangenheit nicht.

Ich liebte es aber, von außen in den Garten hinein zu schauen. Und weil es am Rand eine Bank gab, setzte ich mich immer wieder hin, und schaute in den Garten. (Ich weiß noch, dass meine Beine zu kurz waren und herunter baumelten.) Vor allem dann, wenn mein Großvater im Garten arbeitete, saß ich gerne dort. Ich folgte seine Bewegungen und erlebte indirekt eine Berührung mit den fremden grünen Wesen. Eines Tages geschah das Folgende:

Mein Großvater kam auf mich zu und sagte: „Jelle, öffne deine Hände, so wie eine Schale...“ Ich verstand sofort was er meinte. (Auch daran erinnere ich mich: ich verstand immer sofort was mein Großvater meinte.) Als ich meine Hände geöffnet hatte, holte er hinter seinem Rücken eine Rose hervor, so rot und so groß, wie eine Rose rot und groß sein soll, um eine richtige Rose zu sein. Er legte sie in meine Hände – sie passte dort gerade hinein, und er sagte: „Für dich“.

Und ich wurde eine Rose. Drei, vier, fünf Tage lang gab es in der Welt nur noch diese Rose für mich, diese wunderbare rote-samtweiche-duftende Erscheinung, dieses „Ding“, das gar kein „Ding“ war, sondern ein musikalisches Bild, das zwar in meinen Händen lag, in Wirklichkeit mich aber durchflutete & vereinnahmte & beherrschte. Die ganze Welt war zur Rose geworden.

Seitdem habe ich eine Liebesbeziehung zu Rosen. Ein paar Jahre später stellte ich aufgeregt fest, dass es über Rosen eine Menge zu wissen gab. Ich fing an Bücher über Rosen zu lesen, einfache für Kinder, schwierige für Biologen. Und ich legte Rosen auf meinen Tisch, nahm sie auseinander, zählte die Blätter, ordnete die unterschiedliche Teile. Ich wurde ein kleiner Rosen-Spezialist.

Und ich merkte nach einer Weile: der Rose war gestorben. Die anfängliche & überrumpelnde Erfahrung, dieses von der Rose „erobert“ zu sein, kam nie wieder. Statt dessen war die Rose tatsächlich ein „Ding“ geworden, eine Erscheinung außerhalb von mir, worüber es ganz viel zu wissen gab, und die höchstens gemütlich-ästhetisch in einer Vase auf meiner Fensterbank stand. Ich stellte fest, dass ich die Rose verloren hatte.

Der Schmerz des Verlustes kam. Wie sieht das Leben ohne eine Rosen aus, ich meine: ohne eine Rose in mir? Als Erinnerung war die Rose noch da, und immer wieder erlebte ich wie ein Echo eine Art Hauch, ein Nachklang der Liebe für die Rose. (Ja, mein Großvater: noch immer sind meine Erinnerungen an ihn mit solchen Verlusten verbunden. Ich war sechzehn als er starb. Mit seinem Tod ging ein Ära definitiv zu Ende.) Lange & lange & lange lebte ich mit diesem melancholischen Wissen: irgendwann gab es mal etwas, das nie mehr zurückkehren würde.

Es dauerte eine wüste-weite-Ewigkeit bevor ich noch etwas feststellte, nämlich, dass irgendwo in meiner Melancholie auch ein Wunsch steckte, eine Sehnsucht, ein Verlangen nach der Rose. Ich nahm den Wunsch aber nicht ernst, weil ich meinte: dass es keinen Weg zurück geben werde. Ich verstand meine Sehnsucht also als die unerreichbare Rose selber. (Ist das nicht das Herz der sogenannten Modernität: eine Sehnsucht zu haben, die wir für unrealistisch halten? Womit wir also nichts tun haben wollen?)

Jetzt bin ich auf der Suche. Und pflege Rosen in meinem Garten in Köln. Letzte Woche noch hat sich – ich hatte gar nicht damit gerechnet – eine Rose entfaltet, ich nenne sie „die letzte Novemberrose“. Sie schwebt hoch in den Wind und scheint selbstbewusst zu sagen: „Ich trage dich weit in den Herbst hinein. Auch wenn du nicht mit mir rechnest, bin ich da“. Ich stelle mir den Song „Novemberrain“ von Guns N` Roses vor und verstehe die Rose in meinen Garten als ein Solo von Slash.

Ich bin auf der Suche nach vorne. Ich kehre also nicht zurück in die Vergangenheit. Ich versuche gar nicht, meine Erinnerungen aufzuwärmen. Ich versuche das Suchen zu verstehen als einen nächsten & vorsichtigen Schritt nach vorne in einer Liebesbeziehung, die schon lange existiert. Ich versuche mich delikat & unspektakulär & taktvoll & lauschend & spürend an die Rose neu heran zu tasten.

Diesmal werde ich die Rose erobern. Aber langsam.

Mit Dank an Sophie Pannitschka

07.11.2008

Zwei Zerrbilder. Über Rudolf Steiner als Esoteriker (3)

In meinen letzten Blogbeiträgen habe ich zwei Zerrbilder von Rudolf Steiner beschrieben, die meines Erachtens einen freien Diskurs über seine Bedeutung verhindern. Beide Zerrbilder, so meine ich, hängen mit einer unausgesprochenen „Verlegenheit“ in Bezug auf das esoterische Denken Steiners zusammen. Wenn diese Verlegenheit keinen Raum bekommt, aus (falsch verstandener) Liebe, entsteht das erste Zerrbild – das zweite tritt in Erscheinung, wenn Hass der Grund dafür ist.

Beide Zerrbilder tragen dazu bei, dass die Bedeutung Rudolf Steiners nicht unbefangen bewertet werden kann. Ich meine, dass seine Arbeit gerade das braucht: eine freie & eben „lockere“ Bewertung. Seine – oft sehr ungewöhnlichen – Gedanken über dieses und jenes können erst dann in der Öffentlichkeit aufgenommen werden, wenn sie ideologisch unbelastet dargestellt und verstanden werden. Von mir aus dürfte man durchaus sagen: na ja, der Typ war manchmal vielleicht ein bisschen verrückt, es lohnt sich aber, sich mit seinen Gedanken auseinander zu setzen.

Und ich meine: Rudolf Steiner hätte nichts dagegen, so gesehen zu werden.

Todesernst & Schwere & Melancholie belasten sein Vermächtnis. Licht & Heiterkeit & Vertrauen sind aus seiner öffentlichen Aura fast komplett verschwunden. Für Freund und Feind ist Rudolf Steiner gerade die Gestalt geworden, die er nicht sein wollte: der dunkle Prophet im schwarzen Anzug. Das Spielerische & das Kindliche & das immer wieder neu im Kommen sein wollen – dieser Rudolf Steiner ist hinter den Zerrbildern verschwunden. (Ich meine: nur ein Spielfilm über seine Person könnte seine Gestalt retten. Jeremy Irons müsste dann die Hauptrolle spielen.)

Wie ist Rudolf Steiner als Esoteriker zu verstehen? Und was heißt das eigentlich: esoterisch denken? Ich werde es nicht schaffen, diese Fragen hier zu beantworten. (In meinem Buch „Mittendrin“ habe ich meine Ideen zu dieser Frage bereits dazu gegeben, und es gibt noch ein paar gute Texte mehr von anderen Leute darüber. Heute aber, und in meinen Worten von heute:

Das esoterische Denken wird durch die Annahme begründet, dass nicht nur das rational-begriffliche Denken ein vertrauensvoller Ausdruck unseres Willens zur Wahrheit ist. Im Grunde genommen werden alle seelischen Fähigkeiten (englisch: faculties) als Erscheinungen verstanden, die prinzipiell mit dem Wahrheitsempfinden zu tun haben. In unseren Traumbildern & Gefühlen & Sehnsüchten & Stimmungen & Intentionen & Intuitionen drückt sich der Wille zur Wahrheit aus.

Laut der frühe Friedrich Nietzsche hat Sokrates damit angefangen die Welt der Bilder (den Mythos) zu demontieren. Mit Sokrates fängt der schmale Weg des rational-begrifflichen Denkens an. Seitdem erlebt unser Wille zur Wahrheit Verlust nach Verlust. Was heute übrig geblieben ist, ist ein Denken der (wirtschaftlichen) Nützlichkeit. Die Götter sind tot, die Religion ist tot, die Moral ist tot, und als letztes droht auch noch die Kunst zu sterben. Die Kunst ist zur ästhetischen Beliebigkeit geworden.

Und das heißt: der Wille zur Wahrheit ist in einen engen Bunker hinter die Gestirne verwiesen worden. Das Herz denkt nicht mehr, Bauch und Knie (Joseph Beuys: „Ich denke sowieso mit meinem Knie“) schon gar nicht. Der Wahrheitsmensch ist ein rationales Gespenst geworden, das sich in Bezug auf die Wahrheit von seiner Seele und seinem Körper entfremdet hat. Der Körper ist keine empfindliche Erscheinung mehr, keine Landschaft-zum-Erwachen, sondern eine Maschine die uns „produziert“.

Es gab aber nicht nur Verluste. Der Weg von Sokrates bis zur Aufklärung (Descartes, Kant) brachte laut Rudolf Steiner auch einen großen Gewinn, nämlich: Freiheit. Im begrifflichen Denken macht der Mensch sich von der Gewalt-der-gegebenen-Bedeutungen frei. Der Mensch kann frei denkend zum Schöpfer werden.

Das Monopol des rational-begrifflichen Denkens führte aber, so meinte Steiner, zu neuen Unfreiheiten. Deswegen hat er dieses Monopol angegriffen, und zwar methodisch. Er hat sich bemüht, die verloren gegangenen Wahrheitsbezüge auf eine moderne Art und Weise neu zu greifen. Wenn er zum Beispiel von „Imagination“ spricht, geht es ihm darum, die Beziehung zur Wahrheit von „Bildern“ zu untersuchen. Er geht dabei so vor, dass er sich bemüht, die – oft sehr großen – Schritte, die er macht, auch begrifflich nachvollziehbar darzustellen.

Das ist ihm aber nicht immer gelungen. In seinen Texten & Vorträgen fliegen die Bälle oft so frei im Raum umher, dass man nicht mehr weiß, welches Spiel er eigentlich gerade spielt. Seine Begriffe & Imaginationen & Inspirationen & Intuitionen können so virtuos durcheinander spielen, dass einem der Überblick verloren geht.

Dazu kommt, dass er immer wieder & immer wieder neue Versuche gemacht hat. Für mein Verständnis ist das übrigens die schönste Seite von Rudolf Steiner: in dem im Kommen sein, war er nicht zu stoppen. Und seine Schwäche lag aber genau in diesem Umstand: er machte so viele Versuche, dass er sich um die Bewertung-im-Nachhinein nicht kümmern wollte & konnte. Er hat sehr viele – oft sehr interessante! - Aussagen einfach im Raum stehen lassen.

Und genau so wichtig ist: seine damaligen Zuhörer haben kaum nachgefragt. Man traute sich nicht, den großen „Eingeweihten“ kritisch zu hinterfragen. Ich meine aber, dass seine großartige Arbeit erst dann fruchtbar wird, wenn der Diskurs über seine Person & seine Bedeutung frei wird. Und das geht erst, wenn der Schützengrabenkrieg zwischen den zwei Zerrbildern aufhört.

01.11.2008

Zwei Zerrbilder. Über Rudolf Steiner als Esoteriker (2)

Zwei Zerrbilder, so meine ich, beherrschen den Diskurs über die Bedeutung & die Wirkung Rudolf Steiners. In meinem letzten Blogbeitrag habe ich versucht, das erste Zerrbild zu beschreiben – heute geht es um das zweite. Beide Zerrbilder, so habe ich letztes Mal geschrieben, hängen mit der Tatsache zusammen, dass Rudolf Steiner Esoteriker war.

Das zweite Zerrbild macht aus Rudolf Steiner einen Feind der offenen Gesellschaft. Er wird in diesem Bild als ein Guru verstanden, der verantwortungslos mit dem Begriff Wissenschaft umgeht. Rudolf Steiner behauptet wissenschaftlich zu arbeiten, macht das aber ganz und gar nicht. Einfach gesagt: er spinnt. Er redet von Karma & Reinkarnation & Atlantis & geistigen Hierarchien (Engeln, Erzengeln und so weiter) & Naturwesen. 

Er redet also über Dinge, die es nicht gibt. Darüber hinaus behauptet er, dass er „geisteswissenschaftliche“ Fähigkeiten habe, die weitaus die meisten anderen Menschen nicht haben, einfach weil sie „geistig“ noch nicht so weit sind. Und das heißt, dass aus seiner Sicht zwei Arten von Menschen vorhanden sind: Menschen die wissen und Menschen die nicht wissen. Für die offene Gesellschaft ist das eine klare Bedrohung.

Diese Gestalt von Rudolf Steiner ist nicht fassbar. Man kann ihm in Bezug auf konkrete Aussagen nicht widersprechen. Er hat ja immer Recht, weil er sich beliebig von der einen zur anderen „geistigen“ Ebene bewegt. Es ist in seinem Denken wie in einem Kaleidoskop: er dreht ein bisschen an seinem geistigen Rohr, und alles sieht in seiner Spiegelwelt auf einmal ganz anders und doch ganz gleich aus.

Dass dieser Rudolf Steiner auch rassistische Aussagen gemacht hat, ist eigentlich nicht so schlimm. Schlimmer ist, laut Zerrbild, dass er auch diesbezüglich ungreifbar ist, das heißt: die „Anthroposophen“ drehen die Sachen so, dass die Aussagen „wahr“ bleiben, und trotzdem ganz und gar nicht rassistisch sind. Nur Menschen die ihn nicht verstehen, machen Rassismus daraus.

Dieser Rudolf Steiner hat einen sonderbaren Bruch in seiner Biographie. Bis zu seinem vierzigsten Lebensjahr war er noch ziemlich normal: er verfasste halbwegs vernünftige Texte über Goethe, Nietzsche, die Freiheit oder die Geschichte der Philosophie. Dann aber hat er sich auf einmal ein paar schwarze Stiefel und einen schwarzen Anzug gekauft, wurde Vorsitzender der Theosophischen Gesellschaft in Deutschland und fing an von der Akasha-Chronik zu berichten.

Was da genau geschehen ist, wissen wir nicht, und müssen es auch nicht wissen. Vermutlich liegt hier ein psychologisches Bedürfnis vor: er wollte von seinen Anhängern grenzenlos bewundert und geliebt werden. Seit diesem Bruch aber hält er Vorträge & Vorträge & Vorträge, bis zum Gehtnichtmehr. Und die Inhalte der Vorträge wurden immer abenteuerlicher.

Dieser Rudolf Steiner ist megalomanisch. Er meint über alles & alles & alles Bescheid zu wissen. Landwirtschaft, Philosophie, Medizin, Politik, Pädagogik, Naturwissenschaft, Kunst, Architektur, Geschichte, Sprachwissenschaft, Ökonomie – es gibt kaum ein Fachgebiet, in dem er nicht versucht hat, sich als Reformer zu profilieren. 

Und die Krönung ist: Er hat ja auch noch eine Kirche begründet.

Diesen Rudolf Steiner zitiert man nicht. Höchstens liest man seine Werke ganz im Geheimen (weil er ja manchmal ganz ungewöhnliche Gedanken äußert, die einem weiterhelfen...). Durchaus besser ist es aber, ihn zu meiden, weil von seinem Denken irgendwie eine infektiöse Wirkung ausgeht. Über die Art dieser Wirkung braucht man sich keine Gedanken zu machen, so wie man das mit Pornographie ja auch nicht macht. Über Rudolf Steiner sollte man besser schweigen.

Auch dieses zweite Zerrbild beinhaltet einen Widerspruch. Einerseits scheint dieser Rudolf Steiner eine Gefahr für die offene Gesellschaft zu sein. Eigentlich müsste man seine Ansätze also widerlegen wollen & müssen & dürfen. Anderseits lässt man sich auf seine Gedanken nicht ein, gerade weil er so völlig daneben ist. Über diesen Rudolf Steiner braucht man sich keine seriösen Gedanken zu machen, weil doch klar ist, dass er irgendwann angefangen hat zu spinnen.

Zur Wissenschaft gehört aber, dass man sich über alles klare Gedanken macht. Auch an dieser Stelle gibt es aus meiner Sicht eine Verlegenheit, genau so wie beim ersten Zerrbild: wenn Rudolf Steiner von den geistigen Erkenntnisfähigkeiten spricht – er redet von Imagination & Inspiration & Intuition, und zwar systematisch und ausführlich – ist man überfordert. Seine Denkvorgänge überstrapazieren die üblichen wissenschaftlichen Episteme.

Und deswegen wird dieser Rudolf Steiner in der öffentliche Gesellschaft richtig gehasst. So wie im ersten Zerrbild Wahrheit und unfreie Liebe vermischt werden, spielen im zweiten Wahrheit und unfreier Hass eine entscheidende Rolle. Obwohl die beiden Zerrbilder weit von einander entfernt scheinen und eben zum Schützengrabenkrieg führen, sind sie im Grunde genommen sehr ähnlich. Sie basieren beide auf einer Verlegenheit in Bezug auf das esoterische Denken von Rudolf Steiner.

Über das esoterische Denken von Rudolf Steiner das nächste Mal mehr.

Mit Dank an Sophie Pannitschka für die Korrektur

27.10.2008

Zwei Zerrbilder. Über Rudolf Steiner als Esoteriker (1)

Als Philosoph & Künstler & Aktivist & Lehrer & Pädagoge wird Rudolf Steiner in der heutigen Zeit kaum noch wahrgenommen. Der Grund dafür liegt in der Tatsache, dass er auch Esoteriker war. Seine esoterischen Betrachtungen haben dazu geführt, dass zwei Bilder von seiner Person entstanden sind, die eine freie Sicht auf seine Bedeutung verzerren. Die beiden Zerrbilder sind außerordentlich kräftig wirksam und machen den Diskurs über Rudolf Steiner zu einem Schützengrabenkrieg.  

Das erste Zerrbild macht aus Rudolf Steiner einen innig geliebten Lehrer, der dummerweise von normalen Menschen nicht verstanden wird. Dieser Rudolf Steiner wird in kleinen Kreisen ein „Menschheitslehrer“, ein „Eingeweihter“, ja der „größte Eingeweihte des Abendlandes“ genannt. Die Weisheit & der Tiefsinn & der Weitblick dieser Gestalt ragt über alles hinaus – eigentlich braucht man nur seine Bücher und Vorträge zu lesen, um am Feuer-der-Wahrheit sitzen zu dürfen.

Die Beziehung zu dieser Gestalt ist immer intim. Dieser Rudolf Steiner kennt sich in allen Details meines Lebens aus, hält alle biographischen Einzelheiten meines Werdegangs für wichtig und wünscht – auch wenn er schon 1925 gestorben ist – in Bezug auf das was mir widerfährt, auf dem Laufenden zu sein. Auch wenn die Verehrung & die Furcht ihm gegenüber maßlos groß sind, wird die Beziehung zu ihm durch Nähe bestimmt. Nein, ein Freund ist er nicht – eher ein Vater.

Dieser Rudolf Steiner ist makellos. Natürlich hat er ein paar irdische Fehler gemacht. Denn auch er hat eine Entwicklung durchgemacht – und weil er selber gesagt hat, dass Fehler machen auch zur Entwicklung gehört, darf er seine gemacht haben. Seine Fehler sind aber nicht relevant, sagen eigentlich gar nichts über ihn aus, weil er sie glänzend überwunden zu haben scheint. Die Frage ob er Fehler gemacht hat, die uns vielleicht dringend beschäftigen müssten, stellt sich nicht.

Dieser Rudolf Steiner hat sich irgendwann in seinem Lebensgang von der Geschichte befreit. Er ist „Ereignis-für-alle-Zeitalter“ geworden. An ihm haften keine durch seine Zeit bestimmten Gewohnheiten & Urteile & Intentionen. Er ist so geworden, wie die Kirchen oft gerne Jesus Christus vorstellen: eine Gestalt, die im Alleingang wie ein göttliches Brecheisen der ganzen Geschichte der Menschheit die entscheidende Richtung gab. Die Kategorien Zeit & Raum haben auf einmal keine Relevanz mehr.

Und sehr kurios: dieser Rudolf Steiner hatte eigentlich keine Freunde & Geliebten. Er hatte nur „Schüler“, das heißt „Anhänger“, die ihn entweder „verstanden“ haben - oder eben gerade nicht. Interessant an dieser Stelle ist die Tatsache, dass nicht wenige Anthroposophen sich auch heute noch über die damaligen „Schüler“ definieren. So gibt es Anthroposophen, die meinen, dass nur Ita Wegman, oder nur Marie Steiner, oder nur Albert Steffen, oder nur Walter Johannes Stein den Meister „richtig verstanden“ haben. (Für die „Anhänger“ von Ita Wegman zum Beispiel ist Albert Steffen völlig verkehrt und daneben, er hat gar nichts verstanden…)

Weil Rudolf Steiner Esoteriker war, wird mit seinen Erkenntnissen & Vorschlägen & Aktionen im Nachhinein oft so umgegangen, dass sie als unangreifbar dargestellt werden. Wenn etwas nicht geklappt hat (und, einiges in Rudolf Steiners Leben hat nicht geklappt!), wird zum Beispiel gesagt: die Menschen haben es nicht verstanden, oder: die Zeit war noch nicht reif. Mir scheint es aber eher so zu sein, dass der Wunsch, seine Erkenntnisse & Vorschläge & Aktionen bis zur heutigen Zeit in der Schwebe zu halten, auf einer Verlegenheit basiert.

Und die Verlegenheit ist diese: Wenn Rudolf Steiner von den „höheren“ Erkenntnisfähigkeiten spricht, von Imagination, Inspiration und Intuition, ist er Esoteriker. Aus seiner Sicht ist ein Esoteriker ein Geistesforscher, der methodisch mit diesen Fähigkeiten arbeitet. Zu dem Zerrbild gehört aber auch die Vorstellung, dass Rudolf Steiner an dieser Stelle nicht zu toppen ist. Niemand kann das, was er konnte. Und deswegen akzeptieren die Inhaber dieses Zerrbildes keine Einwände, keine alternativen Vorschläge, keine neuen Sichtweisen, ja, keinen Diskurs.

Das erste Zerrbild beinhaltet einen Widerspruch. Einerseits gibt es die Liebe für den Meister. Diese Liebe erzeugt eine Nähe, die als sehr persönlich empfunden wird. Weil ich im Grunde genommen derjenige bin, der den-Meister-als-Meister anerkennt, verstehe ich mich als „ebenbürtig“; die Aussage, das Rudolf Steiner „ein großer Eingeweihter“ ist, kommt ja von mir. Als Liebeserklärung kann ich diese Aussage natürlich vertreten, so wie Marie mit Recht zu ihrem Hans sagt: du bist der schönste Mann der Welt.

Als Geistesforscher kann ich es andererseits aber nicht, weil mir die esoterischen Erkenntnisfähigkeiten dazu fehlen. Ich bin ja – so sagt das Zerrbild – gar nicht im Stande zu beurteilen, ob Rudolf Steiner der größte Eingeweihte des Abendlandes ist. Ich vermische Liebe also mit „Wahrheit“. 

Die Verlegenheit liegt darin, dass dieser Widerspruch zu einer gewissen Zurückhaltung meiner Äußerungen führt. Nur dadurch, dass ich Steiners Wirken in der Schwebe halte, bleibt der Widerspruch zugedeckt. Das Zerrbild erzeugt eine „sektiererische“ Haltung: ich verleihe meiner Liebe die (wackelige) Gestalt der Wahrheit. Anders gesagt: ich beharre auf Wahrheiten, die ich mir eigentlich nicht zutraue.

(Nächstes Mal über ein zweites Zerrbild.)

Mit Dank an Sophie Pannitschka für die Korrektur 

20.10.2008

Die Machtfrage in einer Kultur des Herzens. Über das Tier in uns.

Populär ist die Auffassung, dass man sich vom Willen zur Macht befreien soll. Irgendwie soll man diesen dunklen Trieb-zum-Herrschen loswerden & hinter sich lassen & auflösen. Man soll frei von Macht werden, sich „gewaltfrei“ verhalten (zum Beispiel „gewaltfrei kommunizieren“). In dieser wohlwollenden Vorstellung schwingt immer irgendwie der Gedanke mit, dass Menschen keine Tiere (mehr) sind. Tiere sind noch den Trieben unterworfen – Menschen haben die Möglichkeit, sich davon zu befreien - und sollten das auch tun.

Was ist aber eigentlich Macht? In alten mythischen und religiösen Vorstellungen werden die Götter als „Machtinhaber“ vorgestellt. Donar hatte Macht & konnte deswegen richtig donnern & das war auch gut so. In der christlichen Lehre der göttlichen Hierarchien gab es Engel & Erzengel & Throne & eben auch „Mächte“ (Dynamis), die laut Dionysos der Areopagit fünf Stufen über dem Menschen stehen. Und dass die Mächte mächtig waren, hieß noch nicht, dass sie auch schlecht waren. 

Das Wort Macht (alt-germanisch „maht“) bedeutete ursprünglich „können“. Macht haben heißt, etwas können, vermögen. Wenn jemand es also vermag ein Haus zu bauen, hat er die Macht dies zu tun. Und wenn Angela Merkel es vermag ein neues Gesetz durchzusetzen, hat sie die Macht dies zu tun. Und wenn ich einen Blogbeitrag schreibe und veröffentliche, habe ich die Macht dies zu tun. (Was wäre ein Leben ohne Häuser & Gesetze & meine Blogs?)

In der Philosophie (vor allen durch Schopenhauer, Nietzsche & Foucault) ist der Begriff Macht schon längst „neutralisiert“ worden, genau so, wie das in den alten mythischen Vorstellungen war. Michel Foucault zum Beispiel hat sich sehr bemüht, den Machtbegriff von der komischen Vorstellung zu befreien, dass bestimmte Menschen Macht haben, und andere nicht. Er meinte, dass Macht immer eine Rolle spielt, in allen möglichen menschlichen Beziehungen. So bald zwei Menschen zusammen sind, gibt es eine Machtfrage. Und das ist auch gut so, weil ohne Macht nichts zustande käme. (Wir würden nicht einmal gemeinsam Urlaub machen.)

Die Frage ist also ganz und gar nicht, wie wir uns von der Macht befreien können. So etwas Wohlwollendes wie ein „machtfreies“ Verhalten kann es gar nicht geben, und soll es auch nicht geben. Der einzige Zustand der Machtfreiheit, ist der Zustand des gelähmt Seins. (Dass der Zustand der Lähmung & der Ohnmacht auch Wunderbares bringt, nämlich Bewusstsein, ist ein anderes Thema.) Stärker noch: der Gedanke, dass man sich von der Macht befreien sollte, ist nicht ganz ohne Gefahr, weil die wohlwollende Intention letztendlich auf Naivität (nicht Wissen) basiert. Und gerade naiv soll man, laut Foucault, der Macht gegenüber nicht sein.

Vor allem die freundschaftliche Beziehung macht deutlich, dass wir uns nicht von der Unbequemlichkeit der Macht befreien sollten, sondern eher umgekehrt: uns mit dem Potenzial der Macht anfreunden müssen. So zu tun, als ob ich keine Macht über meinen Freund (meine Verwandten, meine Geliebte, meine Kollegen) habe, oder haben will, heißt eigentlich, dass ich die Beziehung nicht ernst nehme. Die Macht ist da, wird aber von mir nicht ernsthaft „verwaltet“, oder freundlicher gesagt: in der Hand genommen.

Den Willen zur Macht kann man schon mit einem Tier vergleichen. Das Tier gibt es in jedem von uns, einfach weil wir leben, einfach weil wir zum saturnalen Sein gehören, einfach weil die unendliche & unbekannte & dringende & abgründige & vulkanische „Welt“ sich in uns fortsetzt. Einfach deshalb, weil wir einen Körper haben, und einen Willen & Füße, die uns unbewusst dorthin bringen wo wir hin-oder-doch-nicht hin wollen. Der Gedanke, dass wir nur das tun, was wir uns bewusst überlegt haben, ist nicht nur absurd, sondern vor allem abgehoben und arrogant. Nein, das Tier in uns, der Wille zur Macht also, ist nicht mit einem netten Grinsen weg zu suggerieren.

Das Tier soll nicht in einen Käfig eingeschlossen werden. (Dann geschieht das, was Rainer Maria Rilke in seinem Gedicht ‚Der Panther’ beschreibt.) Das Tier soll auch nicht in einem Zirkus gezähmt werden und schöne Spiele machen. Und das Tier soll nicht getötet werden, weil wir mit dem Tier auch unsere Lebensenergie töten. Dem Tier soll, wie Dante es am Anfang seiner Göttlichen Komödie beschreibt, begegnet werden. Dem Tier soll in die Augen geschaut werden. Und vor allem: das Tier, der Wille zur Macht also, soll anerkannt werden als eine Kraft-für-sich, die manchmal stärker ist, als unser Wille zur Bewusstheit.

In einer Kultur des Herzens verabschiedet man sich von der Illusion, dass wir uns immer im Griff haben & im Griff haben können & im Griff haben müssen. Was die Wikinger schon wussten: in einer Kultur des Herzens rastet man manchmal auch aus. Oder, was in den dionysischen Mysterien schon bekannt war: auch ein Rausch kann sinnvoll sein.

Mit Dank an Sophie Pannitschka  

13.10.2008

Über Pepe & Pablo & Freundschaft & Normalität & Witze & Buenos Aires

Der Händler Pablo ist 54 Jahre alt, schlank & lässig, redet mit seinem ganzen Körper, und nennt mich ständig „der Holländer“. Dreimal frage ich ihn, was seine Geschäfte ausmachen, und dreimal gibt er mir keine Antwort. „Ich bin arm“, sagt er lachend. Er lebt in Barcelona, kommt aber aus Buenos Aires und versteht sich eindeutig als Argentinier. Und das bedeutet, dass er über – manchmal sehr krasse – Witze kommuniziert. Seine Welt der Worte ist die Welt der Witze.

Pablo ist gekommen um seinen kranken Freund zu besuchen. Pepe sitzt in einem Rollstuhl und schaut mit fast kindlichen Augen auf Pablo. Mit seiner rechten Hand hält er seinen linken Arm fest, der gelähmt auf seinem Schoß liegt. Der Arm soll nicht wegrutschen, weil das richtig weh tut. Seine Augen aber folgen seinem Freund Pablo, der sich im Zimmer hin und her bewegt. Auf mich wirkt Pablo so, als ob er hier im Pflegeheim ständig hauptsächlich damit beschäftigt ist, einen Tanz zu unterdrücken.

Tänze & Witze. Energie. Bewegung. Und: Vorsätze umsetzen. Als Pablo lachend sagt: „Pepe, heute Abend trinken wir einen Rotwein“, ist damit die Zukunft definiert. Heute Abend ist schon da, und wird als Gegenwart in Anspruch genommen. Die Zukunft kommt nicht beliebig auf uns zu und beinhaltet keine Rätsel, sondern wird gestaltet. Heute Abend, meint Pablo, wird es eine Party geben.

Und Pepe ist damit einverstanden. Auch wenn er seit dem Gehirnschlag nicht mehr gehen kann und die Gedanken ein bisschen langsamer zu ihm kommen, bleibt seine Hauptregel nach wie vor: leben heißt Vorsätze umzusetzen. Und gerade darunter hat Pepe die letzten Monate, erst im Krankenhaus und dann im Pflegeheim, gelitten: er durfte keine Vorsätze mehr haben. (So ist das mit kranken Menschen – die müssen immer warten, bis zum „geht nicht mehr“.) Heute darf Pepe aber für zwei Tage nach Hause. Und Pablo ist gekommen, um ihn daran zu erinnern, dass ein Leben ohne Vorsätze gar kein Leben ist.

Pepe ist aber jetzt von anderen abhängig. Er kann nicht mehr das machen was er will, nicht einmal seinen linken Arm kann er heben. (Und das will er noch immer.) Zwei Menschen werden gebraucht um ihn mit seinem Rollstuhl in das Taxi zu laden, das ihn nach Hause fährt. Er sitzt nur und guckt mit seinen großen braunen Augen zu. Und er hält ängstlich seinen linken Arm fest.

Seine Abhängigkeit tut ihm weh. Pepe war alles andere als abhängig. Pepe ging seinen Weg. Immer. Von morgens früh bis abends spät. Er machte mit seinem Auto die Runde um seine Kunden zu besuchen. In Denia. In Valencia. In Benidorm. In Alicante. Und überall hatte er seine Freunde. Seine favorisierten Espresso-Bars. Die Läden in denen er wöchentlich seine Lotterie-Billette kaufte. Sein Imperium und sein Aktionsradius waren groß.

(Einmal hat Pepe mich zu einem Stierkampf in Valencia eingeladen. Ich erinnere mich, wie er emotional an den tödlichen Ereignissen teilnahm. Er liebte den Stierkampf, denn der Stierkampf ist ein Ereignis, ein Geschehen, ein Bruch in der Langeweile, eine Katharsis.)

Später trinke ich mit Pablo in seinem Hotel ein Glas Wein. Ich frage ihn, warum er Pepe mag. Und wie die Freundschaft zwischen ihm und Pepe entstanden ist. Erst will Pablo nicht viel sagen – offensichtlich mag er meine Fragen nicht. Fragen stellen tut man nicht. Ironisch schaut er auf mich, macht Witze über dies und jenes („Mit dir hier zu sitzen kostet viel Geld. Ich komme gerne mal nach Deutschland. Dann kannst du bezahlen.“) und versucht für sich auszumachen, was er von dem Holländer halten soll.

Dann aber erzählt er doch. „Ich bin Pepe vor dreißig Jahren in Buenos Aires begegnet. Ich war ein junger Mann und hatte keine blasse Ahnung vom Leben. Von Pepe habe ich gelernt, dass man sein Leben gestalten kann. Leben heißt, sich nicht durch die Tentakel der Normalität treiben zu lassen. Leben heißt, gerade nicht auf Sicherheiten zu setzten. Leben heißt, ein Risiko einzugehen. Leben heißt, jedes Mal einen neuen Anfang zu machen.“

„Weißt du“, sagt Pablo, „es gibt zwei Arten von Menschen. Es gibt normale Menschen, die meinen, dass man sein Leben planen kann. Dass man sein Leben im Griff haben kann. Dass die richtige Ordnung der Dinge daraus besteht, dass man ein Haus, eine Frau und ein regelmäßiges Einkommen hat. Dass man solide lebt. Weitaus die meisten Menschen sind normal.“

„Und dann gibt es die Menschen, die nicht normal sind. Sie sind irgendwie daneben, ja, neben der Normalität. Sie sind die Ausnahme. Diese Menschen brennen für das Leben. Sie versuchen immer wieder ihren Sehnsüchten nach zu gehen. So ein Mensch ist Pepe.“ Und dann, nach einer Stille, sagt Pablo: „Weißt du, Pepe ist jetzt abhängig geworden - von normalen Menschen. Und das ist schrecklich. Er wird nicht mehr lange leben. Ich finde, dass wir alles tun müssen, um ihn in der letzten Phase seines Lebens gegen die Tentakel der Normalität zu schützen.“

Als wir später wieder bei Pepe in seiner Wohnung sind, klingt Tango-Musik. Er liegt still auf seinem Sofa und sagt nichts. Er scheint über die Musik in seinen Erinnerungen gelandet zu sein. Ich habe den Eindruck, dass er wieder zurück in Buenos Aires ist.

Mit Dank an Sophie Pannitschka

06.10.2008

Aus dem Schlummer geschrieben. Der Dichter als Schale

Ich mag es sehr, richtig Zeit zum Aufwachen zu haben. Von mir aus darf das ruhig eine Stunde dauern. Also, ich wache auf, gehe auf die Toilette, lege mich wieder ins Bett, genieße die perfekte Wärme & die perfekte Ruhe, schlafe wieder ein, wache wieder auf – schlummere also... In so einem Schlummer gibt es immer wieder Stimmungen & Bilder & Sätze & Klänge & Gerüche & ich-weiß-nicht-was, die mich umgeben und erfüllen.

(Ich hasse einen Wecker. Pünktlich aufstehen, egal ob das um sieben oder um neun ist, ist nicht so mein Ding. Es bedeutet für mich, dass ich mit Gewalt durch die Wand des inneren Schlafzimmers brechen muss - und das tut weh. Und noch dazu: Leute die morgens heiter wie ein Känguru aus dem Bett springen, sind mir ein Rätsel. Wenn ich pünktlich aufstehen muss, was leider manchmal der Fall ist, sehe ich aus wie ein Frosch.)

Heute Morgen hatte ich Zeit. Ich habe also geschlummert, etwa zwei Stunden lang. Wunderbar. Und wie gesagt: in dem Schlummer gab es Stimmungen & Bilder & Sätze & Klänge & Gerüche & ich-weiß-nicht-was. Als ich um halb elf definitiv aufwachte und mein Bett verließ (so wie ein Schwan den Teich verlässt – mal gesehen, wie das geht?) wusste ich: Jelle, in deinem Halbschlaf warst du sehr beschäftigt. Du hast einen Blog geschrieben.

Einen Blog geschrieben? Ja, so sah es zumindest aus. Ich habe sofort aus unserer Saeco Magic einen doppelten Espresso geholt, mich an meinem Schreibtisch gesetzt und versucht den Blog zu „rekonstruieren“. Leider klappte das nicht, weil nur ein paar Sätze und Satzteile in mir präsent geblieben waren. Die Zusammenhänge der wenigen Worte und Sätze blieben mir verborgen.

So gab es den Satz: „Wir müssen vorstoßen“. Und: „Die Überlegungen müssen einander tragen“. Und: „Vorsicht ist geboten“. Klar war, dass die Worte mit einem ganz bestimmten Vorhaben zu tun hatten, an das ich mich aber nicht mehr erinnern konnte. Ich konnte nicht einmal die ungefähre Richtung des Vorhabens in mir vergegenwärtigen.

Deutlich wurde aber das „dramatische“ Setting, in dem ich mich in meinem Schlummer befunden hatte. Die Stimmung war dringend & ernsthaft & von einem starken Willen geprägt. Etwas MUSSTE geschehen. Um mich herum gab es drei-vier-fünf Menschen, die gekommen waren um mich – den Blogschreiber – zu beraten. Ich hörte die Stimmen meiner Berater und versuchte ihre Textvorschläge aufzuschreiben - was mir übrigens gut gelang. Die Berater waren gut auf einander eingespielt – ihre Vorschläge reihten sich nahtlos aneinander. Um zu dem Text zu gelangen, brauchte ich nur zuzuhören.

Ich würde nicht sagen, dass ich die Berater eingeladen hatte. Es fühlte sich eher so an, als ob sie zu mir gekommen waren, um mich zum Schreiben zu bewegen. Merkwürdig - oder vielleicht besser gesagt: schwierig zu beschreiben – ist die Tatsache, dass die Berater sich auf unterschiedlichen „Ebenen“ befanden. Sie saßen oder standen nicht auf gleicher Augenhöhe miteinander, sondern schwebten eher im Raum, der Eine höher als der Andere, ohne dass dadurch übrigens eine Hierarchie entstand. Der Raum war dunkel; ich konnte die Gesichter nicht klar sehen. Die Anwesenheit der Berater ging mit einem Gefühl von Vertrautheit einher.

Drei Feststellungen konnte ich im Nachhinein machen. Erstens: Der Text hatte mit einem wichtigen Vorhaben zu tun. Zweitens: drei-vier-fünf Berater waren zu mir gekommen, um mir zu helfen. Und drittens: ich brauchte nur zuzuhören. Was aber das Vorhaben beinhaltete und wer die Berater waren, konnte ich nicht mehr feststellen.

Was geht im Halbschlaf vor? Ich bin geneigt zu sagen, dass im Schlummern etwas an die Oberfläche kommt, was sowieso ständig unbemerkt da ist, nur nicht ins Bewusstsein dringt. Wenn ich einen Text schreiben will, dass heißt, wenn in mir der Wille-zum-Schreiben vorhanden ist, hängt das immer mit einem wichtigen aber undeutlichen „Vorhaben“ zusammen. Ich möchte, dass etwas geschieht, ohne deutlich zu wissen, worum es genau geht. Manchmal bringt das Schreiben mich im Verstehen dessen ein Schritt weiter.

Und es scheint mir so zu sein, dass es immer Berater gibt. Wenn ich schreibe, gibt es in mir immer Leute um mich herum, die sich einmischen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass es um die Leser geht. Wenn man schreibt, würde ich sagen, ist man nie alleine.

Und schließlich: gut schreiben heißt zuhören. Es ist ein Paradoxon: je besser die Texte, je stärker das Gefühl: ich habe während des Schreibens nur richtig zugehört. Aus meiner eigenen Quelle ist nur ganz wenig geflossen. In einem klassischen Bild gesagt: der Dichter ist keine Quelle, sondern eine Schale.

29.09.2008

Was Samuel und Sammy einander heute sagen. Über die gute Nacht

Samuel: „Lieber Sammy, nächsten Freitag fliege ich nach Valencia um meinen Freund José „Pepe“ Perez Gomiz zu besuchen. Ich habe dir schon einmal von ihm erzählt. Er hatte in diesem Sommer zwei schwere Operationen. Krebs. Und dann kam noch ein Gehirnschlag dazu. Jetzt liegt er in einem Bett und kann nicht mehr gehen.“

Sammy: „Ja, ich weiß... Ich sehe ihn vor mir. Er liegt in seinem Bett und stellt immer wieder fest, dass sich seine inneren Bewegungen nicht auf seinen Körper übertragen. Innerlich hat er seine Hand schon gehoben, merkt dann aber eine Sekunde später, dass sie immer noch auf dem Laken liegt. Immer wieder sagt er sich: wie kann es sein, dass mein Körper nicht mehr mitmacht? Und gerade jetzt, weil seine Arme und Beine ihm nicht mehr zur Verfügung stehen, wird ihm überhaupt klar, dass er einen Körper hat. Er kann aber nicht darüber reden, weil er sprachlos ist.“

Samuel: „Glaubst du?“

Sammy: „Ich sehe es. Weil ich auf ihn schaue. Weil ich in seine Haut schlüpfe. Weil ich mich in seine Welt hinein bewege. Kannst du das nicht?“

Samuel: „Ich weiß nicht einmal wovon du redest.“

Sammy: „Es scheint mir ganz einfach zu sein. Du stellst dir deinen Freund vor, bewegst dich in die Vorstellung der Lähmung, also: du bist für einen Moment gelähmt, und schaust einfach auf das, was geschieht. Dann wirst du merken, dass du einen Körper hast“. 

Samuel: „Mir ist schon bekannt, dass ich einen Körper habe.“

Sammy: „Bekannt ist es dir schon. Hast du es aber auch gespürt?“

Samuel: „Ich will Pepe besuchen um festzustellen, ob er noch weiter leben will. Ob er wieder lernen will, sich auf einen Stuhl zu setzten. Aufs Klo zu gehen. Ob er die Kraft dazu hat. Ja, ich weiß, er wird dafür Monate brauchen. Harte Monate. Ich will ihn aber spüren lassen, dass ich gerne hätte, dass er noch eine Weile bei uns bleibt. Um Tangomusik zu hören. Um eine Paella zu essen. Und vor allem um bei seiner Frau, seinen Kindern und Enkelkindern zu sein. Und ich möchte ihm ein Gedicht von Dylan Thomas vorlesen.“

Sammy: „Du hast viel vor.“

Samuel: „Das Gedicht endet so: Do not go gentle into that good night. / Rage, rage against the dying of the light“.

Sammy: „Wüten gegen das Sterben des Lichtes...“

Samuel: „Ja, ich möchte, dass Pepe um das Licht seines Lebens kämpft.“

Sammy: „ ... “

Samuel: „Ich will Pepe besuchen um festzustellen, ob er noch einen Grund hat, bei uns zu bleiben. Ob er sich aufrichten will. Ob er ...“

Sammy: „Samuel, du bist zu schnell für mich. Ich verstehe dich nicht. Du redest so, als ob dein Freund schon gestorben wäre. Er lebt aber. Und zwar sehr intensiv. Er ist sprachlos, weil er an einer Schwelle angekommen ist. Ihm fehlen einfach die Worte. Und ja, es geht ihm beschissen. Und ja, er stellt sich ein Leben ohne gehen zu können, wie eine dunkle Nacht vor. Warum spricht Dylan Thomas eigentlich von einer guten Nacht? Was ist aus seiner Sicht gut an dieser Nacht?“

Samuel: „Er meint: Wise men at their end know dark is right”.

Sammy: „Das Dunkel ist also richtig? Oder meint er: das Dunkel hat Recht?“

Samuel: „Ich weiß nicht, was er meint...“

Sammy: „Wenn ich auf Pepe schaue, scheint es mir so zu sein, dass er feststellt, dass es die Nacht gibt. Dass die Nacht einfach da ist. Ja, das war ihm schon bekannt, er hatte es aber noch nicht gespürt. Die Nacht, das Dunkel und der Tod sind in sein Leben getreten, haben sich gezeigt, sind aus der Nacht, aus dem Dunkel und aus dem Tod heraus getreten – sind Tag und Licht und Leben geworden. Das macht ihn sprachlos. Wie sollte man das auch in Worte fassen! Ich könnte es nicht...“

Samuel: „Du machst es aber.“

Sammy: „O nein! O nein! Ich bin genau so stumm wie Pepe. Diese drei Worte, Nacht und Dunkel und Tod, sagen gar nichts aus. Sie verbergen, was sie zeigen.“ 

Mit Dank an Sophie Pannitschka

20.09.2008

Die Legalisierung von Schätzen & die Befreiung von Drachen

Ja, sie hat lange damit gewartet, vielleicht zu lang, um die Worte auszusprechen. Weil sie sich über die richtigen Worte nicht sicher war. Weil sie nicht verletzen wollte. Weil sie überhaupt Angst hatte, einem Menschen von Angesicht zu Angesicht negative Bewertungen auszusprechen. Jetzt hat sie aber den Mut gefasst. Und die Worte die sie endlich aussprach, waren klar & kräftig & souverän.

Ihre Kollegin hat zugehört. Schweigend. Und schluckend. Die klaren & kräftigen & souveränen Worte waren richtig angekommen, ja sie haben eingeschlagen. Sie saß am Tisch, Haupt und Rücken aufrecht, die Augen feucht und der schmale Mund geschlossen. Jetzt – ein paar Tage später – meine ich mich zu erinnern, dass ihre Hände zitterten. Aber vielleicht bilde ich mir das im Nachhinein auch nur ein. Sicher ist aber, dass sie innerlich zitterte.

Nach einer Weile der Stille sprach sie. Es war ihr anzusehen, dass sie verzweifelt war. Sie sprach und sprach, und ihre Worte waren wie aufgeschreckte Rebhühner in einem Jagdrevier. Alle Bedeutungen flatterten. Und dann, auf einmal gefasst, schaute sie die Kollegin an und sagte: „Was du an mir schwierig & unerträglich & unmöglich findest, halte ich gerade für meinen Schatz. Ja, du sprichst von meinem Schatz“.

Ich durfte dabei sein. War ein Zeuge. Ich durfte das mächtige & verwirrende & intime Ringen dieser zwei Kolleginnen mit einander wahrnehmen. Ich durfte in den Abgrund schauen, der sich zwischen den beiden öffnete. Und noch jemand war dabei, auch eine Kollegin, befreundet mit den beiden. Sie sagte: „Ich bin froh, dass die Worte jetzt ausgesprochen sind“.

Der Schatz. Was ist damit gemeint? Mir scheint es so zu sein, dass jeder Mensch in sich einen Schatz erlebt. In der Sprache der Märchen: in jedem von uns gibt es eine Höhle, eine „Aussparung“, in der es mehr oder wenig dunkel ist und in der ein goldener Schatz schimmert. Wir alle schauen in uns auf diesen Schatz, halten ihn für kostbar & delikat & geheimnisvoll. Und ich behaupte, dass kein Mensch ein positives Selbstbild haben kann, ohne sich auf irgendeine Art und Weise auf diesen Schatz zu orientieren.

Der Schatz beinhaltet Fähigkeiten, Intentionen, Vorsätze, Weisheiten vielleicht, die ein doppeltes Gesicht haben. Sie sind vorhanden und doch nicht vorhanden. Sie sind beleuchtet und doch nicht beleuchtet. Sie wenden sich zur Welt und wenden sich von der Welt ab. Sie sind glänzend verletzbar, unzerstörbar fragil, und vor allem: sichtbar ohne fassbar zu sein. In der Sprache der Philosophen: der Schatz ist „das Selbst“, dass „bislang noch keine Gelegenheit hatte, sich [...] zu manifestieren“ (Michel Foucault).

Wir haben gute Gründe diesen Schatz zu beschützen. (Oder meinen zumindest sie zu haben.) Und deswegen gibt es – um wieder die Sprache der Märchen zu benutzen – keinen Schatz ohne einen Drachen. Vor jedem Schatz liegt ein Drache, der meistens schlummert, aber sofort hell wach wird und sich vehement wehrt, wenn eine Gefahr droht. Wenn nötig, speit er Feuer. Schatz und Drache gehören zu einander, sind einander verpflichtet und bilden eine perfekte Symbiose. Beides ist wahr: wo es einen Schatz gibt, gibt es einen Drachen; und wo es einen Drachen gibt, gibt es einen Schatz.

Oft muss man ein richtiger Held sein, um an den Schatz in einem Kollegen oder einem Bekannten oder einem Freund zu gelangen. 

Mir scheint es als Zeuge meine Aufgabe zu sein, den Schatz der Kollegin zu beschreiben, zu offenbaren und damit zu „legalisieren“. Die Kollegin selber kann das nicht. (Ein „Selbst“ kann sich nicht selber „verteidigen“, weil es ein „Selbst“ ist und nicht ein „Subjekt“ - siehe dazu meine Blogbeiträge über „Selbst und Subjekt“). Mit der Legalisierung der Schätze ist hier genau gemeint, was damals im Wilden Westen gemacht wurde, wenn eine Goldgrube entdeckt wurde: der Ort wurde beschrieben und der Inhaber anerkannt. (Man könnte an dieser Stelle auch von der Sozialisierung der Schätze sprechen.)

Durch Beschreibung und Anerkennung werden Schätze geschützt und Drachen befreit. Die Frage ist natürlich, was hier mit Beschreibung gemeint ist. Oder anders gesagt: wie kann man ein „Selbst“ beschreiben, ohne es auf einen Punkt festlegen zu wollen (das heißt: es zu „subjektivieren“)? Ich meine, dass das nur in Bildern geht – in imaginativen Vorstellungen, die wachsen & schweben & sich verwandeln & sich ausweiten & wieder verschwinden können. Die Aufgabe von Künstlern & Dichtern & Journalisten & Rappern & Photographen & Cineasten in einer Kultur des Herzen ist es, solche Vorstellungen zu machen. 

(Jeder Mensch ist ein Künstler & Dichter & Journalist & Rapper & Photograph & Cineast.)

Und was geschieht mit dem Drachen? Jeder Drache hat eine erstaunliche Intelligenz und eine enorme Kraft entwickelt. Wenn er in der Höhle-in-uns nicht mehr gebraucht wird, weil der Schatz anerkannt und legalisiert ist, darf er raus. Er darf in die weite Welt ausfliegen und sich dort mit den Sachen des Lebens, die ihm wichtig sind, beschäftigen. Den Kontakt zu seinem Schatz wird er aber nie verlieren. Die Haupttugend von Drachen ist nämlich Treue.

Mit Dank an Sophie Pannitschka

16.09.2008

Was es heißt, mit Schenkgeld zu leben. Über Freiheit

Seit einem Jahr wird mir jeden Monat ein Betrag von 250 Euro überwiesen. Ich brauche dafür nichts zu tun, dass heißt, von mir wird keine Gegenleistung erwartet. Verantwortlich für diese Tatsache ist die „Zukunftsstiftung soziales Leben“ von der GTS-Treuhandstelle in Bochum – in meinen Worten: eine Unternehmung die Geld in Freiheit investiert. 

Vor einem Jahr habe ich „ja“ gesagt. Und damit liegt die Verantwortung genau so bei mir. Wir haben einen „Deal“ gemacht. Wir haben uns die Hände geschüttelt, einander in die Augen geschaut und gesagt: wir spüren Vertrauen, wir machen es also. Ein Deal – vor allem die Engländer und die Amerikaner wissen das – ist eine Sache des Vertrauens. Und beide Parteien wissen, dass das Leben entweder über links oder über rechts über die definitive Ordnung der Dinge entscheidet.

Was ist die definitive Ordnung der Dinge? Was haben mir die 250 Euro ermöglicht? Als erstes würde ich sagen: sie haben mir geholfen, Freiheit noch besser als Baustelle zu verstehen. Wir alle wissen, dass Geld keine einfache Sache ist, egal ob man wenig oder gerade viel davon hat. Ich behaupte, dass fast kein Mensch ein freies Verhältnis zu Geld hat, so, wie kaum jemand ein freies Verhältnis zu Sex oder Macht hat.

Zu einer „Kultur des Herzens“ gehört es, soziale Einrichtungen zu gestalten, wo das Erlangen der Freiheit in Bezug auf Geld geübt werden kann. (Oft meint man, dass eine Kultur des Herzens auf Freiheit basiert. Nein, eine Kultur des Herzens nimmt die Tatsache ernst, dass Freiheit erst erobert werden muss. Die Kultur des Herzens ist diesbezüglich eine Eroberungskultur.)

Wie sieht es mit meiner Unfreiheit aus? Als vor einem Jahr die Zusage kam, 250 Euro pro Monat zu bekommen, war ich glücklich. Ich dachte: toll, eine Sorge weniger. Ja, auch das muss klar gesagt werden: mir ist dieser Betrag jeden Monat geschenkt worden, weil ich nicht souverän im Stande war – und noch immer nicht bin – mir diese Freiheit zu erobern.

Ich mache seit etwa fünfzehn Jahren immer wieder gerade die Sachen, die wenig Geld bringen. In dieser Hinsicht wäre ich besser Journalist geblieben, denn dann hätte es ganz anders ausgesehen. Das wollte ich aber nicht. Manchmal denke ich: Jelle, du bist 57 Jahre alt und du hast es nicht geschafft den Wohlstand zu erreichen. Was ist los mit dir?

Ja, was ist los mit mir? Das ist so ein Gedanke, mit dem man fertig werden muss, wenn man mit Schenkgeld lebt. 

Ich dachte also: toll, eine Sorge weniger. Nach ein paar Monaten kam aber der Gedanke: Jelle, du solltest doch irgendwie zeigen, dass der Deal berechtigt war! Auch wenn die Stiftung sagt: Jelle, wir verlangen von dir nur, dass du dasjenige machst, was du von dir aus machen willst. Es bleibt aber eine Tatsache, dass es eine Enttäuschung wäre, wenn ich sagen würde: ich habe mir Zigaretten davon gekauft. Zumindest – ich kann natürlich nur für mich sprechen – steht fest, dass ich es für mich dabei nicht lassen kann. Auch wenn die Stiftung keine Erwartungen an mich hat, - ich erwarte etwas von mir. 

Wie frei ist die Erwartung, die ich an mich habe? Na, ich würde sagen: die Antwort ist gemischt. Wahr ist aber – und darin liegt aus meiner Sicht die Bedeutung einer Schenkung – dass die Frage in mir mittlerweile richtig zu meiner inneren Baustelle gehört. Ich arbeite an der Frage und die Frage arbeitet an mir.

Es gibt aber noch etwas zu sagen. Seit Juni letzten Jahres veröffentliche ich jede Woche eine Story auf meiner Website. Und die Themen, die dort auftauchen, sind echt meine Themen: das kleine Kind, Tod und Betroffenheit, die Anthroposophie als postmoderne Diskurs, die Freundschaft als Baustein einer Kultur des Herzens, die Bedeutung der Sprache, eine Anthroposophie frei von Ideologie... Viel in meinem Leben macht mir Spaß – das Schreiben und Veröffentlichen der Beiträge auf meiner Website macht mir sehr viel Spaß. Ich erreiche damit viele Menschen – kriege viele Reaktionen. Und: die Website ist eine Art Baustelle für ein Buch, das ich schreibe. Über die Freundschaft.

Für mich verstehe ich die Ordnung der Dinge so: die 250 Euro pro Monat haben mir die Website ermöglicht. 

08.09.2008

Die Art von Johannes Stüttgen. Und über eine Filzbatterie

Johannes Stüttgen sieht gut aus. Die runde Hornbrille, der flotte Haarschnitt, die perfekt passende lederne Jacke, die Bluejeans und die weißen Joggingschuhe bilden ein fast makelloses outfit. Nur mit den Schuhen ist etwas los. Obwohl Johannes Stüttgen alles andere als hervorragend lang ist, wirken die Schuhe so, als ob sie ganz - ganz - ganz unten wären.

Wir sind mit einer Truppe von zwanzig Erzieherinnen und Freunden in Krefeld. Im Kaiser-Wilhelm-Museum befinden sich zwei Räume, die von Joseph Beuys eingerichtet wurden. Für Johannes sind die beiden Räume, die direkt neben einander liegen und klar eine einheitlich-doppelte Wirklichkeit ausmachen, „eine richtige Schatzkammer, der wichtigste Schulungsraum in Nordrhein-Westfalen“. Es ist Johannes anzusehen, dass er hier sehr gerne verweilt.

Johannes redet. Reden ist sein Ding. Und er geht. Gehen ist genauso sein Ding. Und: er redet wie er geht. Sein Reden und sein Gehen werden von einer Instanz gleichzeitig angeregt, so dass man spürt: irgendwo in Johannes gibt es eine Quelle der Aufmerksamkeit, die beides umfasst: Gehen und Sprechen.

Diese Quelle liegt nicht in seinem Kopf, sondern in seinem Brustbereich. Aus dieser Quelle steigt irgendwie die Bewegung der Worte nach oben und gleichzeitig die Bewegung der Schritte nach unten. Und seltsam: erst wenn ich mich innerlich mit seinen Schritten mitbewege, so, als ob ich sie in mir zulasse und er meine innere „Filzbatterie“ berührt, verstehe ich seine Worte. Ich muss mich also vor allem auf seine Joggingschuhe orientieren.

Filzbatterie. Im zweiten Raum befindet sich eine streng organisierte „Stapelung“ von quadratischen Filzdecken, abgedeckt von schweren Kupfer- und Eisenplatten. Die „Stapelung“ ist etwa einen Meter hoch, einen Meter breit und sechs Meter lang. Das Ganze wirkt wie eine Partie Rohmaterial in eine Fabrikhalle, die darauf wartet verarbeitet zu werden. Wenn man der „Stapelung“ folgt, endet man bei einem Kanichen-Zaun-Gitter. Dahinter befinden sich die Regale des „verlassenen Labors eines Wissenschaftlers“.

Die Wirkung ist klar: ohne die Kraft der Batterie würde man sich in der Vielfältigkeit der Gegenstände im Labor verlieren. Oder anders gesagt: ohne die kompakte und chaotische Wärme des Filzes sollte man besser nicht in die vielfältige Kälte der „verlassenen“ Wissenschaft einsteigen.

Johannes steht neben der Batterie. Er schweigt und schaut nach innen. Es ist, als ob er zurückkehrt zu seiner Quelle im Brustbereich und lauscht. Gleichzeitig aber schaut er durch seine kecke Hornbrille ein bisschen dunkel auf uns. Wir sitzen an der Wand, auf wackeligen portable chairs. Und wir schweigen stumm. Irgendwie hängt etwas ungreifbar Unbequemes in der Luft. Der Blick von Johannes rollt „rundkugelig“ wie zwei innig Hand-in-Hand tanzende schwarze Murmeln durch den Raum. „Ihr dürft mich ruhig unterbrechen“, sagt er dann. Das tun wir aber nicht. Weil uns die Worte fehlen. (Wenn man in eine Filzbatterie eingetaucht ist, spricht man nicht.)

Und dann,

dann dreht Johannes sich langsam um, er legt seine rechte Hand auf die Batterie, berührt bei seiner Drehung kurz eine Kupferplatte - fast wie eine Amsel die kurz landet und sofort wieder aufsteigt - bringt dann Schwung in seine Bewegung, geht mit rhythmischen Schritten an der Filzstapelung entlang und auf die Gitter zu. Dort bleibt er stehen und sagt: „Auch wenn ihr es nicht merkt, die Filzbatterie wirkt in uns.“

Und ich verstehe. Das heißt: ich verstehe, dass die Filzbatterie wirkt. Und ich verstehe, dass die Filzbatterie im Gehen von Johannes wirkt. Und ich verstehe, dass sein Gehen ganz und gar nicht außerhalb von mir geschieht. Er geht in mir, wenn ich will. Sein Gehen bewegt sich in mir.

Und damit auch sein Denken. Wie denkt Johannes Stüttgen? Klar ist, dass ihm viele Begriffe zur Verfügung stehen. Seine Denk-Regale sind gut gefüllt. Und manchmal wirken seine Begriffe auch ein bisschen wie ready mades, ich meine portable chairs, die er einfach nimmt und hinstellt. Die Wahl die er dabei immer wieder trifft, ist nicht nur treffend, sondern auch sehr sorgfältig. Johannes hat eine unsichtbare Meisterhand.

Schön ist, dass manchmal auf der Stelle ganz neue Gedanken entstehen, denen Johannes sofort einen Platz in seinen Regalen gibt.

Mich trifft aber vor allem, dass die Wahl ein Aspekt seiner Bewegung ist. Auch wenn Johannes redet, schweigt er, so, als ob es in ihm einen zweiten Raum gäbe, in dem er sich ständig schweigend-wach bewegt, genauso, wie er sich rhythmisch langsam-schnell und immer wieder sich wendend im äußeren Raum bewegt, im Raum seines Meisters also. Auf mich wirkt sein Denken so, als ob er im Vorbeigehen in seine Regale greift. Er trifft seine Wahl en passant.

Wenn er redet, schweigen die Menschen oft. Weil sie verwundert darüber sind, dass sie in eine Bewegung aufgenommen werden.

Mit Dank an Sophie Pannitschka

01.09.2008

Seminar für Waldorfpädagogik Köln. Diskurs über Kindheit

Im Seminar für Waldorfpädagogik in Köln beginnt in November ein neuer Kurs.Das Motto heißt: Erziehung neu ergreifen. Als Dozent am Seminar möchte ich in diesem Text meine Begeisterung ausdrücken, für das, was in Köln geleistet wird. Ich bin richtig stolz & froh & aufgeregt, und ich hoffe, dass viele Menschen den Weg nach Köln finden. Es lohnt sich, bei uns mitzumachen.

Was machen wir? Rein formal bieten wir eine berufsbegleitende Fortbildung für Menschen, die Waldorferzieher/in werden wollen. Unsere Teilnehmer/innen erhalten nach zwei Jahren ein bundesweit anerkanntes Zertifikat, das professionelle Mitarbeit in den Waldorfkindergärten ermöglicht. Wir freuen uns aber auch über Leute, die einfach die Waldorferziehung kennen lernen wollen, warum auch immer. Man braucht also kein/e staatlich anerkannte/r Erzieher/in zu sein, um bei uns mitzumachen.

Um die Qualifikation zu erreichen, beschäftigen wir uns jeden Montag (von 15.30 bis 21.00 Uhr) mit Pädagogik, Methodik-Didaktik, Anthroposophie, sowie Musik, Eurythmie oder Sprachgestaltung. Hinzu kommen jedes Jahr jeweils noch sechs Wochenenden und eine Blockwoche, die in Zusammenarbeit mit Henning Köhler vom Janusz Korczak Institut (Nürtingen) und Pär Albohm von der Solvikschule (Järna, Schweden) gestaltet werden. In diesen Wochenenden geht es um „pädagogische Integration“ und „intuitive Pädagogik“. Was damit genau gemeint ist, kann ich in diesem kurzen Text nicht erklären. Ich möchte es bei einem Satz lassen: Köhler und Albohm bringen Bewegung.

Ergänzt wird diese Arbeit von einem engagierten Seminarkollegium: Anne Marisch und Eva Nahrwold vom Leitungsteam, sowie Christa Büscher, Carola Grass, Hedwig Sautter, Keiko Fujita, Dr. Christian Schädel, Elke Irene Scheuffele, Regina Thorne, Ute Wagner-Zavaglia und weitere Gastdozenten/innen).

Also, das machen wir. Um aber zu beschreiben, was im Seminar für Waldorfpädagogik in Köln wirklich geschieht, müssen noch drei andere Ebenen erörtert werden. Die erste heißt: persönliche Entwicklung, die zweite: Begegnung, und die dritte: Diskurs über Kindheit.

Was heißt persönliche Entwicklung? Es ist ein schönes Gesetz: Wenn man sich auf die Anthroposophie einlässt, geschieht etwas in der eigenen Biographie. Die eigene Entwicklung wird beschleunigt. Der Grund dafür ist einfach zu verstehen: Anthroposophie macht Menschen zu aktiven Insidern im Leben. Die vielen Fragen & Ahnungen & Hoffnungen, die schon lange in uns schlummern, werden durch die Begegnung mit der Anthroposophie ins Licht gehoben. Sie erhalten ein Gesicht. Und auf einmal versteht man, dass das eigene Leben mehr ist, als eine Ansammlung von Zufälligkeiten & Sachzwängen & Verpflichtungen. Das Leben wird ein Kunstwerk, das man gestalten kann.

Die viele Fragen & Ahnungen & Hoffnungen bringen zuerst Verwirrung. Was gestern noch selbstverständlich war, ist heute eine offene Frage geworden. Zu der persönlichen Entwicklung gehört, einen inneren Kompass zu finden, womit man in der Verwirrung navigieren kann. Und gerade das ist im Seminar für Waldorfpädagogik eine wichtige Sache: eine souveräne Beziehung zu sich selbst zu finden. Der rote Faden durch alle Fächer bezieht sich also auf den Umgang mit sich selbst.

Und was heißt Begegnung? Menschen haben unterschiedliche Erfahrungen & Fähigkeiten & Intentionen. Oft ist der/die Andere richtig „fremd“. Mich begeistert immer wieder zu sehen, wie im Seminar im Laufe der Zeit die Beziehungen zwischen den Teilnehmer/innen sich vertiefen und eine kollegiale oder eben freundschaftliche Ebene erreichen. Das An-einander-wachsen und Mit-einander-ringen während des Unterrichts (und vor allem auch in den Pausen und nachher in der Kneipe!) trägt dazu bei, dass eine positive Beziehung zu der Vielfältigkeit des Lebens entsteht. Und in jeder erzieherischen Tätigkeit ist diese Beziehung zur Vielfältigkeit entscheidend.

Über das ganze Seminar leuchtet für mich der Begriff: Diskurs über Kindheit. Darauf bin ich richtig stolz. Ich meine damit, dass wir nicht nur die klassischen Inhalte der Waldorfpädagogik übermitteln. Klar, das machen wir auch, und zwar sehr gerne. Über die reine Vermittlung von Inhalten hinaus findet aber auch eine Art „Untersuchung“ statt, die sich auf die Frage bezieht: Wie sind in der heutigen Zeit die Kinder – und ist damit auch „Kindheit“ – zu verstehen? Dass wir im Seminar im Stande sind, uns immer wieder mit dieser offenen Frage zu beschäftigen, verdanken wir klar Henning Köhler. Er schafft es immer wieder, den aktiven Insider-in-uns in Bezug auf die Kinder zu wecken.

Ich meine, dass Erziehung heute eine sehr spannende Sache ist. Gute Erzieherinnen und Erzieher beschäftigen sich gleichzeitig warm und nüchtern mit dem, was im Kommen ist – in sich selber, in den Kindern, in den Eltern, in den Kollegien und in der Gesellschaft. Ich meine, dass wir es im Seminar für Waldorfpädagogik in Köln schaffen, frei und engagiert zu schauen, auf das was kommt. Wir freuen uns in Köln über Teilnehmer/innen, die in dieser Weise mitmachen wollen.

25.08.2008

"Mensch: es ist Zeit. Dein Warten war sehr groß." Über Rilkes larische Landschaften

"Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.“ Ich mag diesen Satz von Rainer Maria Rilke sehr. Immer wieder taucht er in mir auf – und das nicht nur, wenn der Herbst im Kommen ist. Der Satz selbst ist, wovon er spricht: voll & mächtig.

Der Satz hat die Form einer reinen Mitteilung. Es gibt hinter den ausgesprochenen Worten eine Instanz, sagen wir mal „eine Seele“, die einer anderen Instanz, „Herr“ genannt, etwas mitteilt. Der Inhalt der Mitteilung umfasst zwei Aspekte. Erst wird gesagt, dass es Zeit ist, und dann, dass der Sommer sehr groß war. Der zweite Aspekt ist eine Erklärung für den ersten Aspekt. Es ist Zeit, weil der Sommer sehr groß war. Noch größer kann oder soll der Sommer nicht werden.

Formal gesprochen – so ist das mit Mitteilungen – muss der Satz so verstanden werden, dass die erste Instanz davon ausgeht, dass die zweite Instanz über einen Tatbestand informiert werden soll. Der „Herr“ scheint vielleicht nicht zu wissen, dass es Zeit ist; und auch scheint er nicht zu wissen, dass das aus dem Groß-Sein der Sommer folgt. (Dass der Sommer groß war, dürfte der Herr wissen.)

Trotzdem gibt es hier einen Haken. Etwas stimmt nicht. Der „Herr“ ist nämlich derjenige, der zuständig dafür ist, den Sommer zu beenden. „Die Seele“ ist dazu gar nicht im Stande. Trotzdem scheint „die Seele“ etwas zu wissen, was der zuständige „Herr“ offensichtlich nicht weiß. Wie aber kann „der Herr“ überhaupt den Sommer gestalten, wenn er ignorant ist in Bezug auf so etwas Wichtiges wie die richtige Zeit? Hat er, als es noch Frühling war, nicht gewusst, dass es Zeit wurde mit dem Sommer „anzufangen“? Und hat ihm „die Seele“ das mitgeteilt, etwa wie: „Herr: es ist Zeit, der Frühling war sehr grausam“? (Laut T.S. Eliot: „April is the cruellest month“)

Rainer Maria Rilke hat mit diesem Satz eine geheimnisvolle Spannung zwischen der sprachlichen Struktur und eine allgemeine Vorstellung kreiert. Die allgemeine Vorstellung ist, dass „der Herr“ zuständig ist, wenn es um die Gestaltung der Jahreszeiten geht. (Was Rilke hier genau mit „Herr“ meint, bleibt eine offene Frage. Man braucht nicht unbedingt an „Gott“ im üblichen Sinne zu denken.) In dem Gedicht wird das auch deutlich, weil „die Seele“ den „Herrn“ dazu anspornt, seine Macht in Bezug auf den Sommer auszuüben: „Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,/ und auf den Fluren laß die Winde los.“

In der allgemeinen Vorstellung macht es keinen Sinn, „dem Herrn“ mitzuteilen, dass es Zeit ist. Höchstens ist denkbar, dass gemeint wird, dass es für „die Seele“ die richtige Zeit ist. Der Satz würde dann eigentlich bedeuten: „Herr es ist Zeit für mich. Der Sommer darf für mich jetzt zu Ende gehen“. Diese triviale Interpretation liegt vor der Hand, scheint mir aber doch auch nicht so ganz zu stimmen, weil die Apostrophe „Herr“ sehr selbstbewusst, ja voll und mächtig am Anfang steht.

Die Anrede und die Worte die folgen, wirken nicht wie ein demütiges Gebet oder eine bescheidene persönliche Bitte. Nein, „die Seele“ erlaubt es sich, „dem Herrn“ selbstbewusst und ebenbürtig anzusprechen und zu einer Handlung zu bewegen. Man stellt sich eher einen selbstbewussten Untertan vor, der dem Souverän sagt: „Herr es ist Zeit. Der Feind ist zu mächtig geworden. Du sollst Krieg machen.“

Das mächtige Geheimnis des Satzes scheint mir in der Beziehung zwischen „der Seele“ und „dem Herrn“ zu liegen. Diese Beziehung ist aber alles andere als eindeutig. Immer wieder wenn der Satz in mir auftaucht – und das geschieht, wie gesagt: nicht nur dann, wenn der Herbst ansteht – erlebe ich eine Kraft, die mich zum Teilnehmer & Mitverantwortlichen & Mitgestalter macht. Ich befinde mich auf gleicher Augenhöhe mit den Göttern und mische mich ein. Ich teile den Göttern mit, dass es reicht; und ich merke, dass die Götter ihre Ohren groß und weit machen. Irgendwie scheinen sie meine Mitteilung zu brauchen.

Hat das Ende des Sommers und der Anfang des Herbstes etwas damit zu tun, was in den Seelen der Menschen vorgeht? Rainer Maria Rilke würde sagen: ja! Klar ist, dass die Seelen der Menschen auf eine passive Art und Weise mit den Jahreszeiten mit-leben. Der Verlauf der Jahreszeiten bestimmt die Stimmung des Menschen mit. Gilt das aber auch umgekehrt, so dass die Stimmung des Menschen den Verlauf der Jahreszeiten aktiv mitbestimmt? Auch hier würde Rilke sagen: ja!

In vielen Gedichten beschreibt Rilke die Natur, die Bäume & die Tiere, die Wälder, die Städte & die Straßen, die Kunstobjekte & die Jahreszeiten, als „larische Landschaften“, dass heißt, als Erscheinungen die sich nur augenscheinlich außerhalb von uns befinden. Die Brunnen & Brücken & Kathedralen & Hügel & Teiche schauen uns neugierig an mit den Augen der Laren (römische Haus- und Landschaftsgötter). Laut Rilke sind die Laren zu verstehen als Botschafter & Vermittler zwischen Menschen & Göttern.[i]

„Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß“. Rilke scheint mit diesem Satz auch sagen zu wollen: „Mensch: es ist Zeit. Dein Warten war sehr groß“.

[i] Über diese Thema gibt es ein wunderschönes Buch: Rilkes larische Landschaft von Rudolf Eppelsheimer. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben, 1975