25.02.2009

Eine Kultur des Herzens. Über gründen und stiften

Eine Kultur des Herzens wird nicht gegründet. Sie ist im Entstehen – sie ist immer im Entstehen, und nur so lange sie im Entstehen ist, kann sie eine Kultur des Herzens genannt werden. Eine Kultur des Herzens kommt ohne Konzepte & Fahrpläne & Landkarten aus, ohne schlaue Systeme & Schemen, ohne Parolen & Satzungen, ohne festgelegte Grenzen.

Eine Kultur des Herzens wird gestiftet, immer wieder & immer wieder neu, zum Beispiel wenn ich einen Kaffee mit dir trinke, und du fragst: „Was ist mit dir los?“ und ich denke: „Ja, mit uns ist ja immer etwas los“ und ich sage: „Mit mir ist los, dass ich mich nach Feuer sehne, ich meine: Feuer zwischen uns, damit etwas geschieht“ und du dann sagst: „Komm, es brennt so richtig, wir machen etwas!“

Oder wenn du sagst: „Zwischen uns gibt es einen Garten, eine Kapelle, eine Werkstatt – einen Raum also, in dem etwas geschehen will, entstehen will, ja, dadurch etwas geschieht, dass etwas entsteht, ohne direkt nützlich oder praktisch oder konkret zu sein, etwas Ungreifbares & Undefinierbares & Erhabenes, etwas Humanes.“ Und wenn ich dann sage: „Es wird sich zeigen, was zwischen uns entstehen kann. Komm, wir geben dem Entstehen Zeit...“

Gründen heißt: physische Fundamente bauen, eine Basis schaffen, Raum & Zeit einbinden und zu unserer Sache verpflichten, im Hier & Jetzt ein Monument aufrichten für morgen und nächstes Jahr, für immer auf der Erde. Stiften ist ein inneres Entzünden. Stiften heißt: die Erde in deine und meine Flammen verwandeln, unsichtbar machen, die Wirklichkeit um eine Stufe höher oder tiefer zu verlegen, das was fest & sicher ist, durch Wärme aufwirbeln zu lassen.

Stiften heißt: sich auf das unsichtbare Gefüge von menschlichen Beziehungen & Orten einzulassen. Ja, Orten... Ein Ort kann mehr sein als eine Projektionsfläche meiner Wünsche, meiner Vorhaben, meiner Vorsätze. In einer Kultur des Herzens sind Orte richtige Partner, die genau wie ich – der „Inhaber“ oder „Mieter“ - etwas wollen. Sie fangen an zu sprechen, wenn ich anfange auf sie zu hören.

In einer Kultur des Herzens ist es erlaubt mit diesem und jenem einfach anzufangen, ohne sich um die Frage zu kümmern, wie es am Ende aussehen soll. Nicht rationale Vermessenheit steuert die Prozesse in einer Kultur des Herzens, als ob man überhaupt wissen könnte, was morgen & nächstes Jahr ansteht, sondern die intelligente Fähigkeit sich überraschen zu lassen. In einer Kultur des Herzens wird man gerne unvorbereitet erwischt.

Weil es ja um Ereignisse geht... Nicht die vorbereitende Planung oder die nachbereitende Dokumentation machen den Puls des Lebens aus, sondern die Ereignisse selber (die ja natürlich Vorbereitung & Dokumentation umfassen können. Gute Dokumentationen sind ja richtige Ereignisse.). In einer Kultur des Herzens gehört alles zum Leben: das Einkaufen einer Flasche Wein, das Öffnen der Flasche, das Ausschänken, das Trinken des Weins, das Reinigen der Gläser nachher, das Entsorgen der Flasche...

Eine Kultur des Herzens wird also nicht gegründet. Das heißt aber nicht, dass man sich nicht um Raum & Zeit & Satzungen & Geld kümmert. Wenn es um gründende Tätigkeiten des Lebens geht, findet in einer Kultur des Herzens eine Verschiebung der Perspektive statt. Raum & Zeit werden aus ihrem statischen Rahmen gehoben und als semantische Einheiten verstanden, als Partner also, die eine Geschichte zu erzählen haben.

Und Geld wird als Geist verstanden, dass heißt: als entzündendes Feuer. Geld soll nicht wie Wasser fließen, sondern wie Feuer brennen. Wenn (finanzielle) Wärme so richtig brennt, entsteht eine Trennung zwischen Körper und Geist: Körper als Rauch, Geist als Licht. Und was ist Rauch anderes als Luft, die verbrannte Körperlichkeit aufwirbelt und sie mühelos-spielerisch zwei Stufen höher transportiert? Der (hoffentlich angenehme) Geruch wird für hundert Nasen frei gemacht und die Asche schlägt sich nieder und wird zum Kompost. Anders gesagt: In einer Kultur des Herzens geht der Wert des Geldes nie verloren.

Wenn die Vergangenheit sich in die Gegenwart verwandelt, kommt die Zukunft auf uns zu. Mit Zukunft ist hier aber nicht gemeint, was wir meinen oder hoffen oder wünschen, dass sein wird. Die Zukunft wird nie sein, so wie die Vergangenheit ist, weil die Zukunft nur dann Zukunft ist, wenn sie in der Gegenwart im Kommen ist. Der Zeitbegriff in einer Kultur des Herzens kriegt eine neue Bedeutung: sie läuft nicht linear von A über B nach C, sondern entzündet sich in B und springt launisch von A nach C, oder gerade umgekehrt: von C nach A.

Mit Dank an Sophie Pannitschka für die Korrektur

21.02.2009

Basiskonflikte in der Biographie (2). Ode an die Depression

In meinem letzten Blogtext habe ich behauptet, dass in der Biographie eine „dritte Phase“ erreicht wird, wenn in der Erkenntnis des eigenen Basiskonflikts eine Gewissheit entstanden ist, „die dazu führt, dass die Fragen & Spannungen & Anstrengungen aus der persönlich-psychologischen Sphäre gehoben werden und eine objektive Bedeutung bekommen“.

Und: „Wir sprechen von einem sehr gelungenen Leben, wenn aus den Spannungen des Konflikts ein bewusster Sprung gemacht und ein neues Bedeutungsfeld eröffnet wird. Oder anders gesagt: der Konflikt wird dadurch gelöst, dass er als Sprungbrett für umfassendere Fragestellungen genutzt wird.“

In einem Kommentar fragt „Anonym“: „Jelle, kannst du mir das bitte näher beschreiben?“

Ich meine das Folgende. Mir scheint es so zu sein, das „Konflikte“ & „Probleme“ & „Spannungen“ heutzutage immer stärker als „rein persönliche“ Angelegenheiten verstanden werden. Ein einfaches Beispiel: eine fundamentale Erfahrung die zum Menschen & damit zur Welt gehört & die wir mit dem Wort „Depression“ andeuten, wird eigentlich nicht mehr als objektiver Erfahrungsvorgang betrachtet, sondern als Krankheit, die unbedingt zu vermeiden ist.

Die beklemmende Erfahrung des Geworfen-Seins, des Spüren des Abgrundes, des Erlebens des Nichts war in den alten Mysterien ein Geschehen, das zur Gestaltung der Persönlichkeit auf eine positive Art und Weise beigetragen hat. Die Entwicklung von Weisheit war nicht möglich, ohne die Bodenlosigkeit des Lebens kennen zu lernen.

Noch zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts schrieb Samuel Taylor Coleridge ein Gedicht mit dem Titel: „Dejection: An Ode“, also eine Ode an die Niedergeschlagenheit. Coleridge stellt die Depression nicht als Krankheit dar, sondern als eine Erfahrung, die zu einer ganz bestimmten Erkenntnis führen kann. Er beschreibt diese Einsicht mit den Worten:

Ah! From the soul itself must issue forth
a light, a glory, a fair luminous cloud
enveloping the Earth - ...

Die Depression kann also zu der Erfahrung führen, dass die Quelle der Freude nicht außerhalb von uns zu finden ist, sondern in uns, dass heißt in unsere Seele. Die Depression ist in diesem Sinne zu verstehen als eine zwar schmerzhafte, aber durchaus sinnvolle Durchgangsphase auf der Reise zu mir selbst und der Welt. Die Depression als ein rein persönliches Problem zu verstehen, führt gerade dazu, dass man in der Depression stecken bleibt und das entstehende Licht, den Glanz, den leuchtenden Schein nicht wahrnimmt.

Bekannt ist ja eigentlich längst, das Licht und Schatten zusammen gehören. Wenn man aber beginnt, diesen Zusammenhang zu er-leben, ja zu leben, dann wird es unumgänglich, diesen beschriebenen Sprung zu machen und damit ein neues Bedeutungsfeld zu eröffnen.

Alles was ein Mensch erfahren kann, gehört zur Welt. Wenn ein Mensch mit einem Problem ringt (und das kann ja ALLES sein), ringt er objektiv mit der Welt. Oder vielleicht besser gesagt: die Welt spielt sich in uns ab; alle persönlichen Probleme sind Weltprobleme.

Persönliche Probleme gibt es nicht.


Mit Dank an Sophie Pannitschka

15.02.2009

Basiskonflikte in der Biographie. Sieben Thesen

These eins: Im Leben eines jeden Menschen wirkt ein Basiskonflikt. Alle biographischen Spannungen & Fragen & Anstrengungen & Tätigkeiten & Aufgaben sind Variationen von diesem Konflikt. Die Natur des Basiskonflikts ist nicht psychologischer oder soziologischer, sondern eher anthropologischer Art. Am treffendsten aber ist der Basiskonflikt als ein „geistiger“ zu beschreiben. Denn dieser Konflikt ist das Ergebnis von Werten & Wahrheiten & Intentionen & Tugenden, die offensichtlich vorhanden sind und spontan nicht unbedingt miteinander harmonieren.

These zwei: Die Auseinandersetzung mit diesem Konflikt gestaltet die Biographie. In den wichtigen Ereignissen einer Biographie drückt sich dieser Basiskonflikt aus. In den Bildern der Jugend zum Beispiel – interessant sind diesbezüglich die frühesten Erinnerungen – zeigen sich die „geistigen“ Voraussetzungen auf mannigfaltige Art und Weise. Die Lebensumstände, die Wahl des Berufes, die Beziehungen zu den Menschen, die Krankheiten & Missgeschicke sind mit dem jeweiligen Basiskonflikt verwoben.

These drei: Die biographische Auswirkung dieses Konflikts kann drei Phasen durchlaufen. In der ersten Phase wirkt der Konflikt völlig unbewusst. Manchmal – aber nicht immer – hört diese erste Phase zwischen dem 28. und 35. Lebensjahr auf. Der Betreffende merkt auf einer träumerischen Ebene, dass „etwas“ an ihm haftet, wovon sie oder er vorher keine Ahnung hatte. Der Konflikt taucht auf mannigfaltige Art und Weise vor dem Bewusstsein auf. Die dritte Phase wird manchmal – aber nicht immer – zwischen dem 49. und 56. Lebensjahr erreicht. Dann ist der Konflikt voll ins Bewusstsein gedrungen und wird als eine persönlich-überpersönliche Angelegenheit verstanden.

These vier: Die erste Phase stimmt mit dem überein, was Wolfram von Eschenbach in seinem „Parzival“ die Phase der „Dumpfheit“ nennt. Die Entscheidungen des Lebens werden aus dem Bauch getroffen und sind immer richtig-verkehrt oder verkehrt-richtig, man könnte auch sagen: immer richtig-richtig. Obwohl diese Phase „dumpf“ ist, steckt eine gestaltende Weisheit dahinter. (Alles was man Erziehung nennt, muss mit dieser dumpf wirkenden Weisheit rechnen.)

These fünf: Die zweite Phase stimmt mit dem überein, was Wolfram von Eschenbach die Phase des Zweifels nennt. In den Worten von Walter Johannes Stein: „Wenn des Menschen Herz aus der Dumpfheit zum Zweifel erwacht, dann zieht sich des Menschen Seele in sich selbst zusammen. Da empfindet sich das tapfer mannhafte Gemüt zugleich in Schmach und Zier, wie der verzauberte Vogel, die Elster, die halb Taube, halb Rabe zu sein scheint“. 1

These sechs: Die dritte Phase heißt bei Wolfram von Eschenbach die Phase der Seelensicherheit („Sælde“). Sie ist erreicht, wenn der Betreffende in der Erkenntnis des eigenen Basiskonflikts eine Gewissheit gefunden hat, die dazu führt, dass die Fragen & Spannungen & Anstrengungen aus der persönlich-psychologischen Sphäre gehoben werden und eine „objektive“ Bedeutung bekommen. Der Betreffende ist mit sich selbst und mit der Welt in Frieden. (Was aber nicht heißt, dass ein Stillstand eingetreten ist.)

These sieben: Wir sprechen von einem sehr gelungenen Leben, wenn aus den Spannungen des Konflikts ein bewusster Sprung gemacht und ein neues Bedeutungsfeld eröffnet wird. Oder anders gesagt: der Konflikt wird dadurch gelöst, dass er als Sprungbrett für umfassendere Fragestellungen genutzt wird. Das Eröffnen eines neuen Feldes kann mit dem klassisch esoterischen Begriff Einweihung beschrieben werden.


1. Walter Johannes Stein, Weltgeschichte im Lichte des heiligen Gral, 1966, Stuttgart, Seite 125.

Mit Dank an Sophie Pannitschka

09.02.2009

Aristoteles: die wichtigste Aufgabe des Gesetzgebers ist es, die Freundschaft zu schützen

Obwohl sie noch immer ein ungelöstes Rätsel sind, scheinen manche Fragen für eine Weile ohne die Aufmerksamkeit der Menschen auskommen zu müssen. Sie verschwinden aus dem menschlichen Bewusstsein und schlafen ein, bis sie eines Tages wieder geweckt werden, offensichtlich weil ihr Rätsel aus irgendeinem Grund wieder angefangen hat zu brennen.

So ein Thema ist die Freundschaft. Einerseits kann man sagen, dass die Fragen der freundschaftlichen Beziehungen in der heutigen Zeit so richtig brennen. Jeder Mensch ringt auf die eine oder andere Art und Weise mit den Dilemmas, die auf dem offenen Feld der Nähe - mit den Worten von Emmanuel Lévinas „zwischen uns“ - auftauchen. Kaum ein soziales Feld scheint in der Gegenwart so problematisiert zu sein, wie das emotionale Gewebe zwischen „mir und dir“.

Anderseits aber habe ich den Eindruck, dass die Frage der Freundschaft selber kaum gestellt wird. Was ist Freundschaft? Welche Bedeutung hat eine freundschaftliche Beziehung für das individuelle Leben? Und vor allem auch: Welche Rolle spielt Freundschaft in der Gestaltung der öffentlichen Gesellschaft, oder vielleicht besser gesagt: Welche Rolle könnte sie spielen? Das Phänomen der Freundschaft selber, so scheint es mir, wird selten hinterfragt.

Eine Freundschaft wird als etwas Selbstverständliches angesehen, was nicht bewusst gestaltet wird. Man hat Freunde, oder man hat sie eben nicht. Die Tatsache, dass man den einen Menschen als Freund und den anderen als Kameraden oder guten Bekannten bezeichnet, beruht oft auf einer begrifflichen Willkür. Die entsprechenden Bezeichnungen werden gedankenlos aus der Luft gegriffen und je nach dem angewendet, so, als ob die Unterschiede eindeutig wären.

Man braucht sich aber gedanklich nur kurz mit dem Unterschied zwischen Freundschaft und zum Beispiel Bekanntschaft zu beschäftigen, um festzustellen, dass die Begriffsabgrenzung im realen Leben vage ist.

Die Unklarheit in Bezug auf die Bedeutung des Begriffs Freundschaft steigert sich noch, wenn sie aus dem rein privaten Bereich gehoben und in das Licht der gesellschaftlichen Zusammenhänge gestellt wird. Eine einfache Wahrnehmung macht vielleicht deutlich, was ich damit meine.

Wenn Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik behauptet, dass der Gesetzgeber vor allem die Aufgabe hat, die Freundschaft zu schützen, erzeugt das in unserer heutigen Gesellschaft ein Befremden. Was hat denn der Gesetzgeber mit Freundschaft zu tun? Freundschaft ist doch eine private Angelegenheit, damit hat der Staat doch gerade gar nichts zu tun?

In der heutigen Sprache würde Aristoteles sagen, dass Freundschaft ein „Eckstein“ der Gesellschaft ist. Unter dem Einfluss des kirchlichen Christentums hat in unserer Gesellschaft die Familie diese Rolle übernommen – und das ist gerade auch das, was viele politische Parteien heute versuchen: nicht die Freundschaft, sondern die Familie zu schützen. In gewissem Sinne ist die Freundschaft in gesellschaftlichen Zusammenhängen non-existent geworden und in den rein privaten Bereich verwiesen worden.

Freundschaft kann als eine freie Beziehung zwischen zwei Menschen verstanden werden, die eine freie Beziehung zu sich selber gestaltet haben. In der Freundschaft ist die Freiheit im Prinzip frei von biologischen, geographischen, wirtschaftlichen oder anderen Voraussetzungen. Es ist gerade der Aspekt der Freiheit, der Aristoteles damals dazu gebracht hat, der Freundschaft die höchste „soziale“ Bedeutung zu geben.

In einer Kultur des Herzens ist die Freundschaft der Ort, wo Freiheit gelebt & geübt & praktiziert werden kann.