Text als Teppich. Über Samuel und einen Händler
... und ja, Samuel hatte es schon verstanden! Das Grinsen des Händlers hatte sich wie ein Vogel von seinen Lippen befreit und sich breit über die Straße & über die Dächer bis zum Horizont ausgeweitet. Und Samuel war mit aufgestiegen, über die Straße & über die Dächer, wie ein Vogel, und er hatte gesehen, wie das Grinsen sich dort, wo die Erde sich zurücknimmt, auflöst. Das Grinsen, dachte Samuel, hört nicht da auf, wo der Mund Wange geworden ist, sondern dehnt sich – auch wenn wir es nicht merken – über die erkennbaren Grenzen von Stadt & Landschaft & Himmelskuppel aus. Und wenn ich will, so meinte er, kann ich mit aufsteigen - mit dem Grinsen des Händlers, der ja plötzlich vor mir stand und dann grinste, weil er meine Hilflosigkeit sofort erkannte. Ich brauche ja nicht bei dem Mann zu bleiben, der auf mich schaut und meine Gifte achtlos genießt, als wäre ich eine Zigarette. Das Grinsen hat eine schwingende Kraft nach oben & auf den Wellen kann man bis in den Himmel surfen. (...) Bald aber war Samuel wieder auf seine Füße zurückgekehrt, weil das Grinsen unerkennbar & irgendwie Atem geworden war & keinen Halt mehr bot. Er war in der sonnigen Stadt weiter gewandert, den Teppich unter seinen Arm gerollt, den Verkäufer noch in Gedanken. Der Mann, meinte Samuel, hat seine Nase tief in meine Angelegenheiten gesteckt & sein Blick hat so gestochen, wie sonst nur Pfeile stechen. Alles an ihm schien scharf & kantig & schmutzig – nur seine Hände nicht, die waren sanft & fein. Er hat mit seiner Hand, dachte Samuel, die Haut des Teppichs gestreichelt & für eine Weile gar nicht gegrinst & ohne Worte auf der sanften Fläche verweilt, als wäre er in der Wüste, als wären seine Kinder dabei, vielleicht sogar seine Mutter. Die Finger hatten zarte Spitzen & die Nägel waren weit zurück geschnitten & die Farbe der Haut war rosa & Samuel meinte: zehn samtweiche Berührungsfläche – und alles was die Finger berühren, wird in lebendige Haut verwandelt! (...) Bin ich jetzt Haut geworden, dachte Samuel? Nein, ich trage meine Haut unter meinem Arm mit. Und wenn ich will, nur wenn ich will, kann ich meine Haut ausrollen & sie berühren lassen. (...) Der Händler war auf einmal aufgetaucht – wie Samuel meinte: aus dem Erdboden aufgeklumpft, aufgestapelt, oder besser: aus dem Nichts aufgerichtet. Der Grund seines Daseins, dachte Samuel, liegt unter meinen Füßen. Und weil ich auf der Flucht bin, ja immer immer immer auf der Flucht bin & meine Füße sich wie Klumpen auf der Erde bewegen, ja immer immer immer fortbewegen, ohne inne zu halten, ohne zu hören, ohne zu berühren, entstehen da unten Löcher & Löcher & Löcher – Schritt um Schritt Löcher & in den Löchern entstehen die Händler & aus den Löchern kommen die Händler zum Vorschein & sagen: Halt! Gerade das hatte der Händler gesagt: Halt, und ja, Samuel hatte es schon verstanden! Das Grinsen des Händlers...
Mit Dank an Sophie Pannitschka