28.04.2009

Text als Teppich. Über Samuel und einen Händler

... und ja, Samuel hatte es schon verstanden! Das Grinsen des Händlers hatte sich wie ein Vogel von seinen Lippen befreit und sich breit über die Straße & über die Dächer bis zum Horizont ausgeweitet. Und Samuel war mit aufgestiegen, über die Straße & über die Dächer, wie ein Vogel, und er hatte gesehen, wie das Grinsen sich dort, wo die Erde sich zurücknimmt, auflöst. Das Grinsen, dachte Samuel, hört nicht da auf, wo der Mund Wange geworden ist, sondern dehnt sich – auch wenn wir es nicht merken – über die erkennbaren Grenzen von Stadt & Landschaft & Himmelskuppel aus. Und wenn ich will, so meinte er, kann ich mit aufsteigen - mit dem Grinsen des Händlers, der ja plötzlich vor mir stand und dann grinste, weil er meine Hilflosigkeit sofort erkannte. Ich brauche ja nicht bei dem Mann zu bleiben, der auf mich schaut und meine Gifte achtlos genießt, als wäre ich eine Zigarette. Das Grinsen hat eine schwingende Kraft nach oben & auf den Wellen kann man bis in den Himmel surfen. (...) Bald aber war Samuel wieder auf seine Füße zurückgekehrt, weil das Grinsen unerkennbar & irgendwie Atem geworden war & keinen Halt mehr bot. Er war in der sonnigen Stadt weiter gewandert, den Teppich unter seinen Arm gerollt, den Verkäufer noch in Gedanken. Der Mann, meinte Samuel, hat seine Nase tief in meine Angelegenheiten gesteckt & sein Blick hat so gestochen, wie sonst nur Pfeile stechen. Alles an ihm schien scharf & kantig & schmutzig – nur seine Hände nicht, die waren sanft & fein. Er hat mit seiner Hand, dachte Samuel, die Haut des Teppichs gestreichelt & für eine Weile gar nicht gegrinst & ohne Worte auf der sanften Fläche verweilt, als wäre er in der Wüste, als wären seine Kinder dabei, vielleicht sogar seine Mutter. Die Finger hatten zarte Spitzen & die Nägel waren weit zurück geschnitten & die Farbe der Haut war rosa & Samuel meinte: zehn samtweiche Berührungsfläche – und alles was die Finger berühren, wird in lebendige Haut verwandelt! (...) Bin ich jetzt Haut geworden, dachte Samuel? Nein, ich trage meine Haut unter meinem Arm mit. Und wenn ich will, nur wenn ich will, kann ich meine Haut ausrollen & sie berühren lassen. (...) Der Händler war auf einmal aufgetaucht – wie Samuel meinte: aus dem Erdboden aufgeklumpft, aufgestapelt, oder besser: aus dem Nichts aufgerichtet. Der Grund seines Daseins, dachte Samuel, liegt unter meinen Füßen. Und weil ich auf der Flucht bin, ja immer immer immer auf der Flucht bin & meine Füße sich wie Klumpen auf der Erde bewegen, ja immer immer immer fortbewegen, ohne inne zu halten, ohne zu hören, ohne zu berühren, entstehen da unten Löcher & Löcher & Löcher – Schritt um Schritt Löcher & in den Löchern entstehen die Händler & aus den Löchern kommen die Händler zum Vorschein & sagen: Halt! Gerade das hatte der Händler gesagt: Halt, und ja, Samuel hatte es schon verstanden! Das Grinsen des Händlers...

Mit Dank an Sophie Pannitschka

21.04.2009

Erschütterung & Verschweigung. Über meinen zweiten Herzinfarkt

Anfang Februar hatte ich meinen zweiten Herzinfarkt. Ich schreibe „meinen“, weil Herzinfarkte individuell geprägt sind. Mit Herzinfarkten ist es wie mit dem Geboren werden und dem Sterben: jeder Mensch hat seine eigene Geburt & seinen eigenen Tod. Mein zweiter Herzinfarkt kam schnell, kräftig & direkt. Weil ich die Zeichen sofort erkannte & eine Kollegin mich binnen zehn Minuten ins Krankenhaus bringen konnte, habe ich die Krise überlebt.

Letzte Woche traf ich eine andere Kollegin. Sie kam auf mich zu, umarmte mich, schaute mich an & fragte spontan: „Was ist anders an dir geworden? Irgendwie hast du dich verändert!“ Weil wir in einem Raum mit vielen anderen Menschen waren, konnten wir nicht wirklich miteinander reden. Und ich sagte: „Nun ja, ich habe mich schon ein paar Wochen nicht mehr rasiert. Vielleicht liegt es daran?“ Es war mir aber klar, dass etwas anderes gemeint war.

In den letzten Monaten haben mich viele Bekannte & Kollegen & Freunde gefragt, wie es mir geht, was der Infarkt mit mir macht & wie ich daran arbeite, einem Nächsten vorzubeugen. Und ich habe versucht, so gut wie es eben geht, diese Fragen zu beantworten. Nein, leicht fiel mir das nicht, gerade weil es „meinen“ Herzinfarkt betraf. Dazu kam, dass eindeutige Antworten leider nicht vorhanden waren.

Ich hatte eher das Gefühl, mich innerlich in einer Spiegelgalerie von Bedeutungen zu befinden. Schaute ich nach links, sah ich mich von hinten gespiegelt, und dachte: siehst du, es geht dir beschissen; schaute ich nach rechts, sah ich mich von vorne, und dachte: ach, es geht dir doch ganz gut! Die Botschaften meines Körpers & meiner Seele waren richtig widersprüchlich & deswegen verwirrend.

Was machen Herzinfarkte? Bei mir führen sie erst einmal dazu, dass ich auf alles schaue, was ich in meinem Leben falsch gemacht habe. Und das ist ziemlich viel. Exzessiv rauchen, zu viel essen (fett), mich zu wenig bewegen (ich hasse sportliche Tätigkeiten), unregelmäßig und ohne Tagesrhythmus leben, und vor allem auch: immer wieder den Stress aufsuchen – so, als ob der Stress verrät, wo das richtige & prächtige & spannende Leben ist.

Herzinfarkte können uns auf eine Schiene bringen, die weit & tief ins Abseits führt. Dort im Abseits herrscht die klare Kenntnis, dass ich in meinem Leben völlig daneben war & immer noch bin. Im Abseits klingt die Frage: Was wäre Positives über dich zu sagen, wenn du nicht einmal im Stande bist, dein Leben verantwortungsvoll in die Hand zu nehmen? Ist dein Infarkt nicht ein Beweis dafür, dass du das Leben ganz & gar nicht verstanden hast?

Ich bin in den letzten Monaten auf diese Schiene geraten. Ein Abgrund hatte sich geöffnet & die Finsternis drohte mich zu verschlingen. Ich sah nur noch EINE Leiter nach oben. Die Stufen dieser Leiter bestanden aus einer Liste von harten Aufgaben: aufhören mit dem Rauchen, gesünder essen, mich sportlich bewegen, rhythmisch leben, innerlich Frieden finden... Und ich muss zugeben: manchmal hat die Liste mich komplett überfordert.

„Was ist anders an dir geworden?“ Diese Frage meiner Kollegin holte mich aus dem Abseits – sie wirkte so, als ob ich auf einmal frei & neu auf mich schauen konnte. Die Frage wendete meinen Blick nach innen. Und was ich sah, war eine Person, die ins Zentrum ihres biographischen Knotenwerks geraten war. Man könnte auch sagen: ich sah mich nach innen „implodiert“, und bis in die inneren Gefüge meines Schicksals gedrängt.

Ich schaue den ganzen Tag nach innen. Ich sitze da irgendwo unten in einem Raum bei mir, nur bei mir – und in dem dürftigen Licht erscheinen Bilder aus meinem Leben. Obwohl der Raum ganz klein ist, wimmelt es dort von Erinnerungen. Und von Fragen. Zum Beispiel: als ich mich damals als Siebenundzwanzigjähriger dazu entschloss, für die Anthroposophie zu leben und zu arbeiten, was waren eigentlich meine Hoffnungen dabei? Und was habe ich dadurch meiner Familie zugemutet? Und meinen Freunden & Kollegen? Was habe ich mir zugemutet?

Da ganz unten geht es nicht um Wahrheiten & Schönheiten, sondern um Intentionen. Was wollte ich eigentlich erreichen? Wenn ich auf meine damaligen Erwartungen & Hoffnungen schaue & verfolge wie sie sich in meinem Leben weiter entfaltet, oder gerade nicht entfaltet haben, wird mir klar: in meinem Leben brennt ein richtiges Feuer.

Was mich da ganz unten aber auch beschäftigt, ist eine Erschütterung. Viele Hoffnungen & Erwartungen sind nicht eingetreten. In dem spärlichen Licht in meinem „Unterschlupf aus dunkelstem Verlangen“ (Rainer Maria Rilke: Die Sonette an Orpheus) sieht mein Leben wie eine unfertige Baustelle aus. Ja, viele Ansätze, viele Versuche, viele Aussichten sind vorhanden... Ein strahlendes Gesamtkunstwerk ist nicht zu entdecken.

Ich glaube, dass ich noch eine Weile da unten bleibe. Das Sitzen-in-mir im dürftigen Licht macht keinen Spaß, bringt aber vielleicht gerade das, was ich dringend brauche: Verwurzelung & Verschweigung & Verwandlung.

Mit Dank an Sophie Pannitschka

15.04.2009

Archiv der Zukunft (2). Erziehung & Bildung zur Freiheit

In meinem letzten Blogtext habe ich behauptet, dass das Netzwerk „Archiv der Zukunft“ als eine Kultur des Herzens zu verstehen ist. Typisch in einer Kultur des Herzens ist es, dass Bildungshäuser – wie der Initiator Reinhard Kahl schreibt - als „irdische Kathedralen, an denen die Gesellschaft sich vergewissert, was sie will“, aufgefasst werden können. Dieser Gedanke beinhaltet eine Umkehrung, die für eine Kultur des Herzens entscheidend ist.

Erst einmal die Frage: warum spricht Reinhard Kahl von (irdischen) Kathedralen? Die Formulierung erinnert an Emmanuel Lévinas, der von der „heiligen Kathedrale“ zwischen mir & dir, zwischen uns... spricht. Das, was in der Nähe zwischen Menschen geschieht, geschehen kann, geschehen darf, das, was uns gegenseitig gestaltet, also bildet, ist ein sakrales Geschehen. Das religiöse Erleben verlagert sich auf eine horizontale-weil-soziale („irdische“) Ebene.

Bildungshäuser sind soziale Orte, in denen vor allem Begegnung stattfinden soll. Bildung geht aus einer Begegnung hervor, immer und immer... Die Begegnung mit mir, die Begegnung mit dir & mit euch, die Begegnung mit den Dingen-der-Welt, die Begegnung mit Gedanken & Ideen... Bildung hat also nur indirekt mit der Vermittlung von Wahrheiten & Erfahrungen & Werten & Normen zu tun. Wenn Wahrheiten & so weiter & so fort ohne Nähe=Begegnung vermittelt werden, findet keine Bildung statt.

Das Bildungsideal als Begegnung lebte zum Beispiel noch stark in der Schule von Chartres (ja, die Kathedrale gibt es immer noch, die Schule leider nicht mehr), in der vor etwa neunhundert Jahren Schüler & Lehrer zusammenkamen, um gemeinsam Fragen zu bewegen. Vereinfacht gesagt verlief das so: die Erfahrenen (die Lehrer) wussten, dass sie ohne die frischen & lästigen & verwirrenden Fragen der begeisterten Neulinge (der Schüler), gar nicht wissenschaftlich arbeiten konnten.

Ja, wie heißt man die neue Generation willkommen? Ich würde sagen auch dadurch, dass sich eine richtige Kultur des Fragenfindens & Antwortenfindens entwickelt. Ich meine damit nicht nur Fragen & Antworten die in Worte gefasst werden, so wie man das mit (sogenannten) Schulkindern schon machen kann, sondern auch die „stumme Sprache“ (Walter Benjamin) der ganz Kleinen. Man braucht nicht immer Worte zu hören, um etwas zu verstehen.

In den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hat der holländische Anthroposoph Bernard Lievegoed (1992 verstorben) dieses Bildungsideal als Ausgangspunkt für die von ihm gegründete Vrije Hogeschool in Zeist ergriffen. In dem sogenannten „propädeutischen Jahr“ kamen – und kommen noch immer - Adoleszenten & Mentoren & Dozenten zusammen, um gemeinsam die Fragen zu finden & zu bewegen, die biographisch auftauchen wollen.

Wie werden Horte & Kitas & Schulen & Hochschulen & Universitäten zu irdischen Kathedralen, an denen sich die Gesellschaft vergewissert, was sie will? Ich meine, dass dazu gedanklich erst eine Umkehrung nötig ist. Es ist nicht die Gesellschaft, die bestimmen soll, wie die Bildungshäuser eingerichtet werden – nein, es ist umgekehrt, die Kinder & Jugendlichen & Studenten, werden bestimmen, wie eine zukünftige Gesellschaft werden soll.

Und das bedeutet: Erziehung & Bildung zur Freiheit. Die aktuelle Gesellschaft soll komplett vergessen, dass sie etwas von den Neulingen zu erwarten & zu verlangen & zu fordern hat. Die Kinder & die Jugendlichen & die Adoleszenten sind nicht da, um die heutigen Bedürfnisse der heutigen Erwachsenen bis in eine weite Zukunft hinein zu befriedigen. Sie haben von sich aus etwas vor, eine (vielleicht noch) verborgene Tagesordnung, die ans Licht treten will.

In Bildungshäusern sollte es also vor allem darum gehen, die menschlichen Beziehungen so zu leben, dass die Zukunft auch tatsächlich in der Zukunft ins Licht treten kann. Und das geht nur, wenn die Neulinge erstens als Springbrunnen (und nicht als Vasen, die man voll gießen soll) ernst genommen werden – als Quellen der Zukunft also, und zweitens dazu ermutigt werden, die Freiheit zu ergreifen. Die Übung zur Freiheit ist in einer Kultur des Herzens eine (harte-aber-schöne) Hauptarbeit.

Die Gesellschaft ist leider ganz & gar nicht daran interessiert, etwas von dem mitzubekommen, was in Bildungshäusern geschieht. Erziehung & Bildung sind nicht sexy. Die öffentliche Gesellschaft ist weit von dem Gedanken entfernt, dass man auf Kitas & Kigas & Schulen schauen soll, um sich zu vergewissern, was man will. Und auch Erzieher & Lehrer zeigen ihren Stolz nicht öffentlich: schaut auf uns, auf das, was wir in unserer Arbeit mit den Kindern & Jugendlichen erfahren und feststellen.

Nein, Erzieher & Lehrer verstecken sich. Nur Banker & Unternehmer & Fußballer & Politiker scheinen sich ihren beruflichen Stolz öffentlich leisten zu können. Schade, weil es wahr ist: in Bildungshäusern ist richtig etwas los.

Mit Dank an Sophie Pannitschka

11.04.2009

Archiv der Zukunft. Bildungshäuser als irdische Kathedralen

„Sollten Schulen und andere Bildungshäuser nicht irdische Kathedralen werden? Orte, an denen die Gesellschaft sich vergewissert, was sie will?“ Diese strahlenden Sätze sind auf der Website www.adz-netzwerk.de zu lesen. Der Name der Website ist: „Archiv der Zukunft“. Auf der Startseite wird deutlich, dass die Website ein klares Ziel verfolgt, nämlich den Aufbau eines Netzwerkes von Pädagogen & Wissenschaftlern & Eltern & Kindern & Jugendlichen & Politikern & allen möglichen Menschen mehr einzurichten.

Wozu? Um von dem Bildungskrampf, den Deutschland plagt, weg zu kommen. Um Bildung wieder genießbar zu machen. Um das winkende & spannende & richtige Leben selber in Bildungseinrichtungen eine Chance zu geben. Ja, um die Kitas & Kigas & Schulen in der Gesellschaft zu strahlenden Orten des heiteren Entdeckens zu machen.

Der Initiator Reinhard Kahl schreibt: „Wenn Schulen ´lernende Organisationen´ werden, verwandeln sie sich gewissermaßen in Individuen. Sie leisten sich eine Biographie, wie sie Personen haben, denn nur Individuen können lernen. Es beleidigt sie, geklonte Exemplare einer perfekten Vorlage sein zu sollen. Das lief schon immer auf das Verbot hinaus, lebendig sein zu dürfen.“

Diese Sätze verraten, dass Reinhard Kahl versteht was Bildung ausmacht. Bildung geht aus der Beziehung zwischen konkreten Menschen hervor – Menschen die etwas wollen, die Absichten haben, die leidenschaftlich Ziele verfolgen, die auf der Suche sind... Um Bildung geschehen zu lassen, reicht es nicht aus, ein rein pädagogisches Ziel zu haben. Für alle Beteiligten – die Kinder, die Eltern, die Pädagogen – sollte das Leben selber die Quelle für Bildungsangelegenheiten sein.

Und davon sind viele Kitas & Kigas & Schulen leider weit entfernt. Von den Erziehern & Lehrern & Pädagogen wird erwartet, dass sie die Kinder in eine vom Staat vorprogrammierte Langeweile einführen. Dass die Kinder und die Jugendlichen davon nicht begeistert sind (und eigentlich nur zur Schule gehen, um die Kameraden & Freunde zu treffen), scheint als collatoral damage einkalkuliert zu sein.

Aus der Website geht hervor, dass das Netzwerk „Archiv der Zukunft“ schon vibriert. In allen Ecken von Deutschland gibt es mittlerweile eigenwillige Schulen, die sich tatsächlich eine Biographie leisten. Überzeugend sind auch die vielen Akademiker, die sich in dem Netzwerk melden – Wissenschaftler die sich wesentliche Gedanken über Bildung und über die gesellschaftliche Bedeutung der Bildungseinrichtungen machen.

Ich meine: irgendwie riecht das Netzwerk gut. Ich würde in meinen Worten sagen: das „Archiv der Zukunft“ trägt dazu bei, dass eine Kultur des Herzens entsteht.

Zwei Aspekte scheinen mir dabei eine entscheidende Rolle zu spielen. Der erste ist, dass der Initiator nicht ein bestimmtes Konzept verfolgt, sondern auf die bereits weit offen stehenden Türen eines geöffneten Raumes hinweist. Ohne Angst, ohne Bedenken, ohne Vorbehalte lädt er richtig dazu ein einzutreten. Er vertraut darauf, dass alternative Wege gefunden werden, wenn es gewollt wird. Anders gesagt: das Archiv der Zukunft ist in seinen Hoffnungen großzügig.

Der zweite Aspekt ist, dass stark mit den Kräften der Zivilgesellschaft gerechnet wird. Das Netzwerk ist ein Flechtwerk von freien Bürgern, die freie Initiativen entfalten – auch wenn sie sich notgedrungen im Rahmen von Gesetzen bewegen. Bildung wird als eine freie kulturelle Angelegenheit verstanden, die vor Ort gestaltet wird, ein delikates Geschehen zwischen konkreten Menschen in spezifischen Momenten. Wenn man sich also in das Netzwerk einbringt, ist man sowieso schon ein Spezialist.

In den Texten auf der Website ist eine gewisse „Weisheit“ spürbar. Die Fragen die gestellt werden, gehen schon ein bisschen über die übliche Ebene hinaus. So wird zum Beispiel die Frage gestellt: „Wie heißt man die nächste Generation willkommen?“ Auch hier zeigt sich die Stimmung einer Kultur des Herzens. Die Frage muss nämlich nicht sofort beantwortet werden – die Bedeutung der Frage liegt eher darin, dass ein offener Raum kreiert wird, in dem sich Unerwartetes großzügig zeigen darf.

Mit Dank an Sophie Pannitschka

06.04.2009

Die unvollendete Mission von Pico della Mirandola. Über einen Frühling

Der Humanist & Philosoph Pico della Mirandola gehört zu den historischen Gestalten, die mich immer wieder stark berühren. Sein Leben und seine Arbeit stehen wie große Fragezeichen im Strom der Zeit. Und immer, wenn er in meiner Aufmerksamkeit auftaucht, scheint er zu sagen: „Vergiss bitte mein Rätsel nicht!“

Direkt an seiner Seite erscheint auch immer sein Freund & Geliebter Angelo Poliziano. Er war ein Dichter, der kein Philosoph sein wollte, weil ihm die Schönheit vertrauter war als die Wahrheit; und weil er meinte, dass er sowieso nicht im Stande wäre, philosophisch auf gleiche Augenhöhe mit seinem zehn Jahre jüngeren Freund Giovanni zu kommen.

Beide sind in Florenz kurz nacheinander gestorben: erst Poliziano im September 1494, dann Pico kaum zwei Monate später, einunddreißig Jahre alt. Man hat wohl gemeint, Pico wäre seinem Freund Angelo „nachgestorben“. Erst letztes Jahr, 2008 also, haben italienische Forensiker einwandfrei festgestellt, dass beide ermordet worden sind. Nach mehr als fünfhundert Jahren wurden hohe Dosen Arsen in ihren Gebeinen gefunden.

Das Leben Pico della Mirandolas ist als ein gewaltiger Versuch des Strahlens zu verstehen. Er wollte Licht & Vertrauen & Energie in das trübe Denken seines Zeitalters bringen. Er meinte, dass die damaligen Kämpfe zwischen Platonikern & Aristotelikern auf einem Missverständnis beruhen würden. In seinen 900 Thesen, die er 1486 verfasst hat, wollte er eine Art Synthese von allen großen Wahrheiten aus den verschiedenen Religionen und Philosophien darstellen.

Seine dritte These lautet: „Homo est homo“ – ein bisschen locker übersetzt heißt das: „Der Mensch ist die finale Ursache des Menschen.“ Mit diesem Satz wurde die Grundidee des Humanismus ergriffen.

Über seine philosophischen Beiträge hinaus war auch seine Erscheinung strahlend schön. Seine Zeitgenossen berichten davon, dass Pico – er war körperlich groß, hatte eine enorme Nase & lange lockige Haare – immer die Aufmerksamkeit seiner Mitmenschen auf sich zog. In seinem menschlichen Verhalten schien er die Verkörperung des humanistischen Menschenbildes darzustellen.

Pico hatte vor, seine 900 Thesen öffentlich in Rom zu verteidigen. Der damalige Papst aber, Innozenz VIII, erklärte Pico zum Ketzer – dreizehn seiner Thesen wurden als häretisch verurteilt. Und damit war die Sache gelaufen. Pico musste auf seinen Vorsatz verzichten & sah sich gezwungen, den liberalen Schutz von Lorenzo de Medici in Florenz zu suchen.

Die einleitende Rede die er in Rom halten wollte, ist unter dem Titel „Über die Würde des Menschen“ berühmt geworden. In diesem Text schreibt er: „Möge unsere Seele vom heiligen Ehrgeiz ergriffen werden, nichts Mittelmäßiges anzustreben, sondern das Höchste zu ersehnen und mit aller Kraft uns anzustrengen, dies zu erreichen. Denn wir können es, wenn wir es nur wollen!“ (Yes, we can!) Pico begriff den Menschen als einen Gott der Freiheit & als einen Bildhauer des eigenen Lebens. Er stellte den Menschen auf eigene Beine, ohne erst Gott töten zu müssen – so wie Nietzsche.

Pico wurde also erst als Ketzer zu einem Außenstehenden degradiert, dann wurde er ermordet. Nach seinem Tod aber war der Widerstand gegen seine Mission nicht vorbei. In seinem Buch „Syncretism in the West: Pico´s 900 Thesen“ macht S. A. Farmer glaubhaft, dass Picos Neffe Gianfrancesco Pico, die letzten Texte seines Onkels „überarbeitet“ hat, dass heißt: so geändert hat, dass man meinen könnte, Pico wäre am Ende seines Lebens ein Anhänger des Anti-Humanisten Savonarola geworden.

Die Mission von Pico della Mirandola blieb unvollendet. Die Vehemenz seiner Widersacher macht deutlich, wie wichtig seine Mission war. Und es ist eigentlich nicht so schwierig, sich vorzustellen, was geschehen wäre, wenn er seine Arbeit zur Ende hätte bringen können. Er hätte nämlich gedanklich-philosophisch das Spielfeld der Renaissance beschrieben. Die großen Arbeiten von Raffael & Michelangelo & Leonardo, die erst nach dem Tod von Pico entstanden sind, hätten eine gedankliche Einbettung gehabt. Anders gesagt: die Mission von Pico hätte dazu geführt, dass die Renaissance nicht nur eine künstlerische Sache geblieben wäre.

Wenn wir heute an die Renaissance denken, denken wir vor allem an Kunst. Für Pico und seine Freunde Poliziano & Lorenzo war die Renaissance aber die Geburt eines Menschenbildes, das bis in das soziale & religiöse & politische & finanzielle Leben wirken sollte. An dieser Stelle ist ein Vergleich mit Joseph Beuys hilfreich: er sprach ja von einer „sozialen Plastik“ - das Prinzip der Kunst wurde von ihm über alle Aspekte des Lebens erweitert.

Hinter die Wolken strahlt noch immer die Sonne von Pico della Mirandola. Manchmal entsteht da oben plötzlich eine Öffnung – und was dann kommt, nennen wir noch immer „primavera“. Richtig erstaunlich ist, dass nach mehr als fünfhundert Jahren, dieser Frühling noch genauso zerbrechlich & fragil & glitzernd ist. Manchmal denke ich: die Mission von Pico hat gerade erst angefangen.

Mit Dank an Sophie Pannitschka

01.04.2009

Turm von Babel steht noch da (2). Sehen was es zu sehen gibt

Der Turm von Babel ist nur noch ein Trümmerhaufen. Was irgendwann einmal ein wilder Sturz nach oben war, ist nunmehr ein Stumpf in der Geschichte, in mir, in dir, in uns geworden. Was einmal unvollendet aufgerichtet war und Gottes Zorn erweckte, ist heute nicht einmal mehr eine touristische Attraktion.

Nein, ich habe nicht vor, den Turm zu rekonstruieren. Ihn in seiner alten Form darstellen zu wollen, wäre eine dumme Art der Würdigung. Im Grunde genommen geht es mir um die Feststellung, dass der Turm zwar noch steht, aber zu einem Trümmerhaufen geworden ist. Erst dadurch, dass der Turm in seinem heutigen Zustand gesehen wird, kann seine gegenwärtige Bedeutung begriffen werden.

Der Turm von Babel ist ein Mythos, der Trümmerhaufen aber nicht. Klar, ohne den Mythos hätte es gar keinen Turm gegeben – also auch keinen Trümmerhaufen. So ist es aber eben mit den Göttern und Halbgöttern und Helden aus den alten Zeiten, die wir ja nur aus Erzählungen kennen, aus Mitteilungen und Überlieferungen und Texten und Bildern. Dass es je Marduk (auch Baal genannt) gegeben hat, wissen wir, weil die Sprache seinen Namen und die Kunst seine Gestalt überliefert haben.

Ich meine: der Mythos ist gerade kein Mythos mehr, weil er ein Trümmerhaufen geworden ist. Ich meine: ein Trümmerhaufen ist ein Ding-für-sich. Wir brauchen gar nicht auf einen Mythos zurückzugreifen, um diesen Stumpf in der Geschichte, in mir, in dir, in uns zu beschreiben. Ich meine eben, dass wir nicht einmal auf einen Mythos zurückgreifen können, auch nicht wenn wir dringend wollten, weil die alten Bedeutungen zu einem toten Rest geworden sind.

Wir müssen nur wissen, dass es einmal einen Mythos gab, der besagt: es gab einmal einen unvollendeten Turm... Weil uns aber nicht die Frage beschäftigt, warum der Turm unvollendet blieb, nicht einmal warum er zu einem Trümmerhaufen geworden ist, sondern was er in der Gegenwart uns als Trümmerhaufen zu sagen hat, brauchen wir nur mythologische Informationen, keine mythologischen Erklärungen.

Erst ohne den Blick Gottes erscheint ein Trümmerhaufen nicht als ein Haufen von etwas Gescheitertem. Um einen Trümmerhaufen als ein Ding-für-sich zu sehen, nämlich als einen Haufen von Sachen die in Vergessenheit geraten sind, soll das (göttliche) Urteil des Scheiterns demontiert werden. Gottes Urteil ist nicht hilfreich. (Das hat uns ja Friedrich Nietzsche gelehrt. Seine Arbeit ist alles andere als ein Scheiterhaufen – sie ist ein wunderbarer Trümmerhaufen von schmutzigen Schätzen.)

Ein Stumpf ist ein Stumpf. Punkt. Ja, Stümpfe brauchen unsere Hilfe, weil sie gerade die von Gott nicht bekommen. In Bezug auf Stümpfe steht Gott aber selber wie ein Stumpf da. Ja, Stümpfe brauchen unsere Aufmerksamkeit, unsere Hingabe – ohne unsere Hände und Augen und Nasen und Gedanken und Phantasien bleiben sie moralisch blockierte Erscheinungen in der Landschaft, so wie zum Beispiel die Stadt Köln auch eine verlogene Identität darstellt.

Ich meine, dass oft davon ausgegangen wird: die Stadt Köln ist leider nicht mehr da. Die Stadt wurde im Zweiten Weltkrieg von den Alliierten bombardiert, ausgelöscht, vernichtet. Und in den fünfziger und sechziger Jahren hat man die Stadt wieder aufgebaut, leider aber nur schnell und lieblos und ohne Seele... Was heute in der Stadt zu sehen ist, ist leider nicht mehr das, was es einmal war. Die Stadt Köln ist ein Stumpf seiner selbst geworden.

Ein Stumpf ist aber ein Stumpf. Köln ist nun eben ein voll bebauter Trümmerhaufen. Wenn man nur sieht, was es nicht mehr gibt, sieht man nicht, was es gibt. Was es gibt, wird zu dem, was es nicht gibt, nämlich zur armen und leeren und nicht geliebten Alternative. Was heute Köln ausmacht, ist aber keine Alternative, sondern eine verwundete und fragende und richtige Stadt. (Wer sich auf die Fragen von Köln einlässt, sieht eine Menge schmutzige Schätze. Schmutzig ist aber gar nicht schlimm. Und: was schmutzig ist, kann man reinigen.)

Der Turm von Babel steht noch immer da. Ich erkläre ihn heute und in meinen Worten zum Gegenstand meiner Aufmerksamkeit und Hingabe. Und ich hoffe, dass die Leser dieser Worte sich einmischen und sich mit mir ins Trümmerfeld begeben werden. Ich hoffe, dass sie beschreiben wollen, was sie dort antreffen.

Mit Dank an Sophie Pannitschka