25.05.2009

Der Klavierspieler und der Beamte

Der Flügel war groß & schwarz. Er stand inmitten eines Zimmers mit weißen Wänden & weißen Bodenfliesen & weißen Gardinen. Ohne auch nur einmal mit seinen Augen zu blinzeln, schaute der Beamte mit einem skeptischen Blick auf das Instrument und fragte: „Woher kommt das Ding?“ Der Klavierspieler faltete seine enorm großen Hände, schüttelte kräftig seinen Kopf – die langen Haare flatterten um ihn herum – und sagte: „Das kann ich Ihnen leider nicht sagen“.
„Ach so!“, sagte der Beamte. Er holte ein Notizbuch aus der Seitentasche seines Jacketts und kritzelte etwas hinein. „Das können Sie mir leider nicht sagen“, wiederholte er. Er schaute nochmals auf den Flügel, schwieg eine Weile und stellte dann fest: „Sie haben ein Problem!“ Er schaute kurz in sein Notizbuch, hob seinen Kopf und sagte: „Dann brauchen wir ein bisschen Zeit. Können Sie mir einen Stuhl bringen?“
Der Klavierspieler nickte, verschwand und kam unmittelbar mit einem Klappstuhl wieder zurück, den er gewandt ausklappte & hinstellte. „Machen Sie es sich gemütlich“, sagte er. Der Beamte tat so, als ob er nichts gehört hätte – hatte er vielleicht auch nicht – setzte sich hin & schwieg. Er schien all seine Erfahrungen & all sein amtliches Wissen zu sammeln, um herauszufinden, was in dieser schwierigen Lage der richtige Schritt wäre.
„Also“, sagte er, „erst müssen wir die genaue Bedeutung ihrer Aussage klären. Wissen Sie nicht woher das Klavier kommt? Oder gibt es einen anderen Grund, warum Sie mich nicht informieren können? Betrifft es vielleicht ein Geheimnis?“ Der Klavierspieler faltete wieder seine enorm großen Hände und sagte leise: „Ich weiß es nicht. Es ist aber eigentlich auch ein Geheimnis.“
Mit lauter Stimme, als wollte er betonen, dass Flüstern nicht passte, sagte der Beamte: „Es tut mir Leid, Geheimnisse können wir aber nicht dulden. Das wissen Sie wohl!“ Er öffnete sein Notizbuch, nahm den Stift in die Hand & wartete. „Bitte“, sagte er, „geben Sie mir jetzt ohne Umwege eine klare Erklärung.“
„Der Flügel war schon immer hier“, sagte der Klavierspieler.
„Immer, immer? Wieso immer? Nichts war schon immer da!“
„Doch, als ich hierher kam, war der Flügel schon da.“
„Jetzt müssen Sie aufpassen“, sagte der Beamte verärgert. „Alle Gegenstände haben eine Geschichte & meine Aufgabe ist es, die Geschichten der Gegenstände in dieser Stadt zu dokumentieren. Die Zeit ist vorbei, dass Gegenstände ohne Vermerke existieren können. Seien Sie also bitte so lieb und...“
„Der Flügel war schon immer da“, wiederholte der Klavierspieler. „Als ich hierher kam, war ich vier Jahre alt. Als ich fünf war, entdeckte ich das Zimmer – ich bin einfach hinein gegangen & habe das Klavier gefunden & seitdem mache ich Musik darauf. Und niemand konnte mir sagen, wem das Instrument gehört. Ja, ein Geheimnis ist es schon...“
„Warten Sie mal!“, sagte der Beamte. „Sie behaupten also, dass das Ding schon da war, als Sie als Kind hier einzogen? Und dass es damals niemanden gab, der Bescheid wusste? Ist es das, was Sie versuchen mir zu übermitteln?“
„Ja“, sagte der Klavierspieler leise.
„Und ihre Eltern?“
„Was ist mit meinen Eltern?“
„Nun, wussten sie auch nicht Bescheid?“
„Meine Eltern, meine Eltern...“ begann der Klavierspieler zögernd, „meine Eltern haben erst nach vielen Jahren mitbekommen, dass es das Zimmer mit dem Flügel überhaupt gab. Wieso hätten sie das auch wissen können? Beide sind übrigens bald danach gestorben.“
Der Beamte stand auf. Er lief auf das Fenster zu, schob die Gardinen zur Seite & schaute nach draußen. „Es regnet“, sagte er nachdenklich. Dann drehte er sich um, presste kurz und kräftig seine Lippen aufeinander und sagte: „Diese Geschichte gefällt mir gar nicht. Etwas stimmt hier nicht.“ Er nahm sein Notizbuch in die Hand und wollte etwas schreiben, hielt dann inne und sagte vor sich hin: „Was soll ich denn aufschreiben?“
„Nun ja, vielleicht die Wahrheit“, sagte der Klavierspieler.
„Reden Sie bitte nicht von der Wahrheit! Die Wahrheit in Bezug auf dieses Ding hier“ - sein Zeigefinger wies in die Richtung des Flügels - „muss noch aufgedeckt werden. Was Sie mir erzählen, kann nicht als vollständige & hinreichende & befriedigende Wahrheit gelten. Halbe Wahrheiten soll & darf & kann man nicht dokumentieren!“
„Sie scheinen das Ding hier nicht besonders zu mögen“, sagte der Klavierspieler.
„Bitte?“
„Den Flügel, meine ich...“
„Was soll denn das? Mir ist das Ding scheißegal. Was mir nicht gefällt, ist die Geschichte, die Sie erzählen. Ich meine...“
„Man kann Gegenstände nicht von ihren Geschichten trennen.“
„Gegenstände, Gegenstände...“ rief der Beamte. „Sie haben keine Ahnung von Gegenständen. Wissen Sie, heute geht es um ein Klavier, gestern war es eine alte Dampfmachine, vorgestern, ja, was war es vorgestern? Ach ja, ein holländisches Gemälde mit Windmühlen & Bauern & Schiffen & Wolken & Heringen... Was die Holländer sich nicht alles zusammen malen – nicht zu fassen! Sie haben aber recht: Gegenstände soll man nicht von ihren Geschichten trennen! Und deswegen...“
„Die Geschichte des Flügels ist leider ein Geheimnis“, sagte der Klavierspieler.
„Unfug“, sagte der Beamte, „wenn man will, kann man alles erklären.“ Er nahm sein Notizbuch & schrieb etwas hinein. „In sechs Wochen komme ich wieder“, sagte er dann. „Nutzen Sie die Zeit bis dahin bitte, um die Wahrheit aufzudecken.“

19.05.2009

Neuigkeiten aus dem Badezimmer. Über Poesie & Zeit & Nachrichten

Psychologische Erklärungen sind fast nie poetisch. Sie decken auf, dass heißt: sie erzählen Geschichten hinter und über Geschichten. Mit einem psychologischen Blick wird die Geschichte eines seelischen Schmerzes in die Vergangenheit gestoßen & dort mit einer neuen Geschichte verwechselt, zum Beispiel über einen Vater, der mich oder dich oder ihn oder sie nicht angenommen hat, oder über eine Mutter die – naja, was könnte sie nicht alles getan haben.

Die aufgedeckte Geschichte gilt als Erklärung für die vorherige Geschichte, die immer irgendwie eine Beschwerde beinhaltet. Seelischer Schmerz wird in der Psychologie als eine Wirkung in der Gegenwart von einer Ursache die in der Vergangenheit liegt verstanden. Hinter der psychologischen Vorgehensweise steckt ein Zeitbegriff, der besagt, dass die Gegenwart durch die Vergangenheit bestimmt wird.

In der Poesie ist ein anderer Zeitbegriff wirksam. Der Dichter Novalis hat es so gesagt: „Der Sinn für Poesie hat nahe Verwandtschaft mit dem Sinn der Weissagung und dem religiösen, dem Sehersinn überhaupt. Der Dichter ordnet, vereinigt, wählt, erfindet – und es ist ihm selbst unbegreiflich, warum gerade so und nicht anders“. Man könnte es vielleicht auch so sagen: In der Poesie wirkt das, was im Kommen ist.

Mit Poesie ist hier nicht Dichtung gemeint. Man kann den Worten natürlich unterschiedliche Bedeutungen beimessen, ich meine mit Dichtung aber die Tätigkeit die zu literarischen Texten führt & die Texte selber. Poesie verstehe ich als eine Aufmerksamkeitshaltung, eine seelische Orientierung auf die Welt & das Leben & die Menschen & die Ereignisse & die Gegenstände. Poesie führt dazu, dass die stumme Sprache-der-Dinge auf einmal zur Botschaft werden. Man kann Poesie haben ohne Dichtung, Dichtung ohne Poesie gibt es nicht.

Auch ein Poet geht morgens ins Badezimmer um sich zu waschen, seine Zähne zu putzen & sich heute-oder-heute-vielleicht-doch-lieber-nicht zu rasieren. Gleichzeitig aber lässt er das Badezimmer auf sich zu kommen wie eine Art kuriose Neuigkeit, wie ein überraschendes Gebilde, das sich im Hier & Jetzt offenbart. Was er im Badezimmer hört & riecht & sieht & spürt & schmeckt & denkt & fühlt & will – was zeigt mir der Spiegel heute? - beinhaltet für den Poeten eine Bedeutung, die etwas über funktionale Bedeutungen hinaus geht.

Eigentlich ist es nicht richtig zu sagen, dass der Poet ins Badezimmer geht – treffender könnte man sagen, dass er das Badezimmer auf sich zu kommen lässt. Er befindet sich in einer „rückwärtsgehenden Evolution“ (Rudolf Steiner), die von der Zukunft ausgeht & uns in der Gegenwart trifft. In diesem zweiten Zeitstrom liegt das Ziel nicht in der Zukunft, sondern in der Vergangenheit – es ist die Verwandlung des Gewordenen. Laut Rudolf Steiner ist die Erkenntnis der zweiten Evolution eine Bedingung für das „geistige Schauen“.

Ein Poet praktiziert das geistige Schauen. Samuel Taylor Coleridge (siehe das aktuelle Motto meiner Website) spricht an dieser Stelle von einer ersten & einer zweiten Imagination. Die erste Imagination bezieht sich auf jegliche spontane & unbewusste menschliche Wahrnehmung, die zweite versteht er als ein Echo der ersten, mit dem wesentlichen Unterschied, dass sie mit unserem bewussten Willen zusammenfällt („co-existing“). Das geistige Schauen ist laut Coleridge eine bewusste Wiederholung-in-der-Endlichkeit von dem „ewigen Schöpfungsakt in das unendliche ICH BIN“. Novalis sagt an dieser Stelle: „Der Dichter erfindet“.

Wo in der Psychologie gerne eine zweite „erklärende“ Geschichte“erzählt wird, entwirft & kreiert & gestaltet die Poesie nur ERSTE Geschichten, die allerdings nicht als Erklärungen gelten, sondern eher als Bezauberungen & Weissagen & Öffnungen. Poetische Geschichten greifen in die Vergangenheit heftig ein, nicht weil sie dort etwas erklären, sondern weil sie berühren. Die Kraft der poetischen Verwandlung liegt darin, dass das Badezimmer zum Einweihungsort erhoben wird.

In einer Kultur des Herzens werden poetische Geschichten erzählt. Es wird eine Zeit geben – in fünfzig oder achtzig oder hundert Jahren? – in der die Nachrichtendienste sich nicht nur mit äußeren Tatsachen beschäftigen: so und so viele Arbeitslose, so und so viele Verluste im Krieg, so und so viele Verkehrsunfälle, und wie das alles zu bewerten wäre... Die journalistische Aufmerksamkeit wird auch die Neuigkeiten an der poetischen Front betreffen:

„Köln, 18. Mai. In einem Badezimmer in der Kölner Innenstadt wurde heute Morgen festgestellt, dass eine dreifache Spiegelung zwischen Fenster, Fliesen und Spiegel in der Seele eines achtundfünfzigjährigen Mannes eine Verwirrung hervorrief. Für einen kurzen Moment glaubte der Mann ein Gespenst zu sehen, dann verstand er aber, dass er sich selber sah. Der Mann freute sich darüber, sich selber unvorbereitet gesehen zu haben. Das bringt richtig etwas, meinte er.“

17.05.2009

Susanne Sturm schrieb: „Wir MCSler sind Kanarienvögel“

Also, seitdem ich mich so anders ernähre, gebrauche ich viel mehr Salz. Fast scheint es mir, als ob manches mal mir das Salz die Süße ist. Nicht jedes Salz ist gleich gut, am liebsten mag ich Steinsalz. Auch Himalayasalz ist gut, natürlich ist es auch ein Steinsalz, aber das, was ich meine, ist das Steinsalz aus einer bestimmten Gegend. Himalayasalz, das war mal, jetzt das Steinsalz aus meiner Heimat.
Salz auf meiner Haut, ein Roman, den mochte ich auch, das war auch mal. Echtes Salz auf meiner Haut nach dem Baden im Meer, das liebe ich ebenfalls, vor allem Salz in meinem Haar. Dann wird es so besonders, und meine Locken können Locken sein, eher klein und unaufdringlich, aber doch da, stetig und gedreht. Die Sonne macht es dann hell und ich fühle mich sommersprossig gut.
Salz in der Wunde ist nicht so gut, aber irgendwie manchmal doch. Einen Moment halte ich die Luft an, spüre den Schmerz und atme ihn weg. Es sind aber auch nur kleine Wunden, wie es bei den großen wäre? Ich weiß nicht, ob ich so lange den Atem anhalten könnte. Wunden, die noch tiefer sind und schon Narben gebildet widerstehen dem Salz und der Atem kann endlos angehalten werden.
Salz heilt aber auch.
Gurgeln mit Salzwasser.
Zähneputzen mit Salz.
Salz auf Bilder kippen, den Boden scheuern.
Salz als Mutprobe, mit zehn und noch zwei weiteren Mädchen. Heimlich mitgenommen von zu Hause, in einem Kaffeepapierfilter. Aber dann doch nicht genommen, es war einfach zu eklig, und dann war es uns auch zu blöd. Wir waren trotzdem Freundinnen und ein geheimer Bund im Gartenhaus von Birgit.
Salz auch auf Weinflecken im Teppich oder der Tischdecke, schnell, schnell, ehe es eingetrocknet ist. Salz als Brocken, den mein Vater aus einem Bergwerk mitbrachte; er durfte einfahren, als Gewerkschaftssekretär, ich nicht, ich war ein Kind und ein Mädchen, kein Mann. Nur Männer dürfen Unter Tage. Merkwürdig. Und Schnupftabak aus Pfefferminzpulver schniefen sie durch die Nase, weil man dort unten nicht rauchen darf. Wieso brauchen Bergmänner überhaupt was für die Nase und Mund?
Und wenn die Luft gar zu schlecht wird, dann sterben zuerst die Kanarienvögel, sie begleiteten die Männer, damit diese nicht starben und die Frauen nicht weinten und die Kinder ihre Väter hatten. Samstags gehört Vati mir. Und damit bin ich bei meinem Essen mit viel Salz, was so anders ist als bei andren und anders als früher bei mir.
Wir, die MCSler, sind auch Kanarienvögel. Wir reagieren als erste, so wie die Wälder und die Vögel im Bergwerk, die Bienen. Vielleicht achtet man nicht auf uns, weil wir vorher nicht so schön gesungen haben. Mädchen die pfeifen, Hühner die krähen, den sollten man beizeiten die Hälse umdrehen. Krause Haare krauser Sinn, sitzt nichts als der Deibel drin.
Du renitente Hexe.
Gut, dass mein Vater ein Gewerkschaftssekretär war, für ihn war ich der Goldfasan.
Susanne Sturm

12.05.2009

Sammy und Samuel heute. „Erzähl mir mal eine Geschichte!“

Sammy: „Lieber Samuel, wenn ich auf dich schaue, habe ich das Gefühl, dass du Geschichten erzählen möchtest – aber dennoch schweigst. Was hält dich davon ab, dich in die Sprache hinein zu bewegen? Warum kommst du nicht vom Fleck? Hast du nicht einmal gesagt, dass du dein Leben den ungeschriebenen Gedichten widmen willst?“

Samuel: „Du hast Recht; in mir gibt es tausend Geschichten. Oder müsste ich sagen, dass die Geschichten mich wie Vögel umgeben? Manche dieser Geschichten stehen still auf einem Bein im Wasser & warten, andere taumeln kreischend im Wind, noch andere hüpfen hübsch von Ast zu Ast, wieder andere kreisen hoch oben in der blauen Ferne. Du weißt doch, Sammy, wie es mit den Vögeln ist: sie sind schwer zu ergreifen.“

Sammy: „Geschichten erzählen, heißt also Geschichten ergreifen?“

Samuel: „Nein, wenn ich behaupte, dass Geschichten ungreifbar sind, stimmt das schon – dennoch mache ich es mir damit leicht. Geschichten soll man nicht ergreifen wollen, weil sie in unseren Händen sterben. Sich auf eine Geschichte einzulassen, heißt gerade das Umgekehrte: man lässt sich selber los & man fliegt mit & man taumelt & schwankt & stürzt & lässt sich letzten Endes vielleicht wie ein landender Schwan auf dem Wasser ausgleiten.“

Sammy: „Und damit tust du dich schwer?“

Samuel: „Ja. Ich sitze manchmal in mir & bei mir & eben neben mir & sehne mich nach Luftbewegungen, nach kreisen & umkreisen (Rilke: Bin ich ein Falke?) & stelle fest, dass ich unbeweglich wie ein Turm in der Landschaft stehe. Du hast es schön gesagt: Ich komme nicht vom Fleck. Dieses in mir & bei mir & eben neben mir Sitzen ist eine tödliche Fixierung. Es führt dazu, dass ich selber nicht einmal zu einer Geschichte werden kann.“

Sammy: (...)

Samuel: „So ist es! Es gibt Schweigen & Schweigen. Das erste Schweigen ist wie eine Verankerung in deinem Leib & in deinen Erinnerungen & in deinen Hoffnungen & in deinen alten Selbstentwürfen... So ist es mit Türmen: sie sind gebaut worden, um uns zu schützen. Wenn ich in meinem Turm sitze & schweige, weil ich Angst habe, schweige ich mich in das Salz hinein. Der große Dichter aus Chile, Pablo Neruda, nannte das: die begrabene Geometrie, die Schule des Salzes. Dieses Schweigen bedeutet bewahren.“

Sammy: (...)

Samuel: „Das zweite Schweigen bedeutet Wink & neuen Anfang. In diesem Schweigen machen sich die Geschichten vom Gewordenen los & heben sich aus den Angeln der Quadratur & stülpen sich um & lassen sich durch die Archive der Zukunft anziehen. In dieser Schule der warmen südlichen Luft werden sie neu geboren. Sammy, wenn ein Mensch zu einer fliegenden Geschichte wird, heißt das, dass er Flügel bekommt.“

Sammy: „Erzähl mir mal eine Geschichte!“

Samuel: „Heute morgen saß ich bei mir & in mir & neben mir. Um mich herum gab es die stillen Geräusche der Stadt: die Autos & die Züge & die Bauarbeiten & die Stimmen der Nachbarn... Und ich hatte das Gefühl, dass keines dieser Geräusche eine Botschaft für mich enthielt. Die Welt war stumm & von mir abgekoppelt. Als dann ein Handy klingelte, merkte ich nicht einmal, dass es mein Gerät war.“

„Das Handy machte einen zweiten Versuch & ich stellte fest: jemand versucht mich zu erreichen! Ich ging an den Apparat, sagte: mit Samuel Coster & hörte zu. Was ich aber hörte, war ein merkwürdiges Geräusch, ein Klick-klack-klick-klack, fast so, als ob jemand irgendetwas Holzartiges hinter sich her eine Treppe hoch schleppt. Auf mein Hallo-Hallo-Hallo folgte keine Reaktion. Ich wartete & wartete & hörte das Klicken & Klacken & dazu noch Geräusche, die ich gar nicht einordnen konnte.“

„Dann gab es auf einmal eine metallene Stimme, die deutlich hörbar sagte: ‚Der Zug nach Basel hat zwanzig Minuten Verspätung’. Das Klicken & Klacken hörte sofort auf & eine mir unbekannte Stimme sagte: ‚Scheiße!’ Dann fing das Klicken & Klacken wieder an & kurz darauf riß die Verbindung ab.“

Sammy: „Ist das eine Geschichte?“

Samuel: „Nein, eigentlich nicht. Es ist ein Erlebnis. Es kann aber eine Geschichte werden, wenn ich es will.“

04.05.2009

Samuel hat heute das Gefühl: „Ich müsste ihr einen Brief schreiben“.

„Ich müsste ihr einen Brief schreiben. Schreiben, dass es mir nach fünfunddreißig Jahren noch immer Leid tut. Dass irgendetwas unerledigt geblieben ist, weil ich damals gar nichts verstanden habe. Dass ich damals nicht einmal verstanden habe, dass es etwas zu verstehen gab. Ich möchte erfahren, ob sie damals etwas verstanden hat & was sie jetzt versteht. Ich möchte wissen, wo sie in all den Jahren war & was sie gemacht hat – ob sie einen Geliebten gefunden hat, Kinder bekommen hat, und vor allem: ob sie wirklich so enttäuscht war, wie ich mir das heute vorstelle. Ja, warst du enttäuscht? Nein, so müsste ich schreiben: Bist du noch immer enttäuscht? Nach all den Jahren? So wie ich irgendwie auch enttäuscht bin, nach all den Jahren, weil ich damals gar nichts verstanden habe? Gibt es in dir, irgendwo tief versteckt, noch einen Schmerz, weil ich dich damals nicht mehr wollte? Weil ich in mir blieb, bei mir blieb & nicht zugelassen habe, dass du dich in mir fortsetzen konntest, dass du mit deinem Lachen, mit deinem Schweigen, mit deinen Hoffnungen in mir einen Ort finden konntest, einen zweiten Platz um zu sein – ja, eine zweite Unterkunft braucht man ja! Warum? Um von außen in einer fremd-vertrauten Innerlichkeit auf sich selber schauen zu können, um einen musikalischen Raum zu haben, den man betreten kann & in dem man versteht: diese Musik betrifft mich! Wo man sich in fremd-vertrauten Motiven aufgehoben fühlt, wo man spürt: ich bin in dem verwirrenden & absurden & verzwickten Leben eine erkennbare Melodie. (...) Habe ich damals von dir gesungen? Nein. Ich konnte es nicht. Heute, ja heute, nach fünfunddreißig Jahren, versuche ich irgendwie von dir zu singen, weil deine Art mir erst jetzt klar geworden ist, ich meine: erst jetzt sehe ich deine Aufrichtigkeit & Schweigsamkeit & Liebe. Vielleicht ist es so, dass du mich geliebt hast. Darf ich dich heute fragen: hast du mich geliebt? Oder darf ich diese Frage nicht stellen, nicht mehr stellen, weil ich sie damals nicht gestellt habe? War es gerade diese Frage, die ich nicht ertragen konnte? Nicht denken konnte. Und nicht spüren oder fühlen wollte? Darf ich die Frage nicht stellen, weil es mir auch heute noch kalt wird, wenn ich daran denke, dass ich damals deine Aufrichtigkeit & Schweigsamkeit & Liebe nicht einmal sehen konnte, nicht anerkennen, nicht würdigen konnte? Gibt es in mir noch immer keinen Grund, mich dir zuzuwenden & dich zu fragen ob... Ich möchte wissen - ja, warum eigentlich? - ob du damals sprachlos warst, weil ich ein unausgesprochenes Versprechen nicht einhalten konnte & auf einmal so handelte als ob ich deine Melodie nie gehört hätte? Habe ich dich verraten? Und mache ich das eigentlich noch immer, weil ich schreibe: ich konnte damals deine Art nicht sehen? Ja, es ist wahr, ich habe deine Art wohl gesehen, oder gespürt, oder geahnt... Vielleicht stimmt es so: nicht gesehen, wohl aber geahnt... Ein Mensch braucht offenbar bittere Erfahrungen um Ahnungen in Vorstellungen & Gedanken & Begriffe verwandeln zu können. Ich hatte damals keine Ahnung von Ahnungen. (...) Du hast damals verstanden, was ich suchte. War mir das zu viel? Du hast mir Mingus & Zappa & Wittgenstein & die russischen Ikonen gebracht. Und Osiris & Isis & Horus. Und deinen Vater, der schon gestorben war. Und deinen Bruder, der bald sterben würde. Und deine Beine in hohen Stiefeln. Und dein stilles Lachen – ja, was könnte ich heute über dein Lachen sagen? Irgendwie schien mir dein Lachen ein Versprechen zu sein, eine breite Landschaft bis zum Horizont, ein Freiraum... War mir das alles zu viel? Ja, mit Charles Mingus & Ludwig Wittgenstein & Andrei Rublev ist mein Leben weiter gegangen & auch mit Osiris & Isis & Horus & später sind Apollo & Orpheus & Miles Davis & Captain Beefheart & Rainer Maria Rilke & Virginia Woolf dazu gekommen & ´Hulshorst, als vergeten ijzer is je naam`. Es ist weiter gegangen, aber ohne deinen verstorbenen Vater, ohne deinen Bruder, ohne dich. Du wurdest ein Loch in mir, eine dunkle Stelle, worauf ich nicht schauen wollte oder konnte, ein Zimmer hinter einer verschlossenen Tür. (...) Eigentlich möchte ich dir einen Brief schreiben mit der Frage, ob ich dir einen Brief schreiben darf. Ich weiß aber, dass du diese Frage nicht beantworten kannst, weil nur ich das kann. Es ist ja meine Frage an mich: darf ich dir einen Brief schreiben? Oder besser: darf ich ihr einen Brief schreiben? Gerade mit dieser Frage hast du ja gar nichts zu tun. (...) Ich weiß nicht einmal wo sie lebt. Vielleicht ist sie schon lange aus der Großstadt weg & lebt irgendwo am Meer, wo die Möwen sich kreischend in die Höhe mitnehmen lassen & sich dann in die Tiefe stürzen & dort einen Fisch schnappen & wieder nach oben schwenken.“

Mit Dank an Sophie Pannitschka