28.09.2009

Die Waldorferzieherin (1). Eine klärende Vorbereitung

Dieser Text ist als eine Vorbereitung für einen weiteren Text zu verstehen. Nächste Woche werde ich versuchen zu beschreiben, was eine Waldorferzieherin sein muss, ich meine: welche Fähigkeiten sie haben sollte, um ihrer Aufgabe gerecht zu werden. Der Text von nächster Woche ist noch im Kommen – er wird eine Art Sprachübung sein, dass heißt, ein Versuch über Worte & Sätze & Redewendungen der Waldorferzieherin näher zu kommen.

Der Anlass meiner Übung liegt in einem Treffen von etwa zwanzig Menschen letzte Woche in Hannover begründet, die sich im Rahmen der Vereinigung der Waldorfkindergärten unter anderem mit der Frage beschäftigten: was soll eine staatlich anerkannte Erzieherin lernen um auch Waldorferzieherin zu sein? Die zuständigen Menschen kommen zweimal im Jahr zusammen & vertreten die Seminare für Waldorfpädagogik in Berlin, Dortmund, Dresden, Hamburg, Hannover, Köln, Mannheim, München, Rendsburg & Stuttgart.

Die Frage was eine staatlich anerkannte Erzieherin lernen sollte, um Waldorferzieherin zu werden, setzt voraus, dass es so etwas wie eine Waldorferzieherin gibt. Aus mehreren Gründen kann aber argumentiert werden, dass es so etwas gar nicht gibt & eben nicht geben kann. In der Lebenspraxis ist allerdings von einer Waldorferzieherin schon die Rede. Die Vorbereitung meiner Sprachübung besteht nun daraus, an dieser Stelle eine Unterscheidung zu machen.

Der Begriff Waldorferzieherin ist mit einer (eventuellen) beruflichen Definition nicht gleichzusetzen. Ein Beruf ist (philosophisch gesprochen) ein „Subjekt“, das auf einer gesellschaftlichen Abmachung beruht. Berufe gestalten sich im Spannungsfeld ZWISCHEN dem Selbst & gesellschaftlichen Vorgaben. Ein Selbst kann mit seinem Beruf nicht identisch sein, weil Subjekte zu beschränkt & fixiert sind, um die Fülle eines Selbstes zu umfassen.

Für manche Berufe sind Rechte & Pflichten in Gesetzen peinlich genau festgelegt. Wenn jemand von sich sagt: „Ich bin ein Arzt oder ein Rechtsanwalt oder ein Lehrer“ bedeutet das einfach, dass er die dementsprechende Ausbildung gemacht hat, offiziell anerkannt ist & sich an ganz bestimmte Regeln zu halten hat. Sich ohne diese gesellschaftliche Anerkennung als Arzt auszugeben, ist eben strafbar.

Mit manchen Berufen ist das anders. Ich darf mich zum Beispiel Künstler oder Journalist oder Entertainer oder Politiker nennen, ohne dementsprechende Papiere vorweisen zu müssen. Diese Berufe sind mehr oder weniger „frei“. Mit dem Beruf Erzieher ist es allerdings so gestellt, dass man schon eine staatliche Anerkennung braucht, um beruflich tätig zu werden.

Den Beruf Waldorferzieherin gibt es in diesem Sinne aber nicht. Das liegt letztendlich nicht nur daran, dass der Staat den Beruf nicht „genehmigt“ - nein, es hat erst einmal damit zu tun, dass die Gemeinschaft von Waldorfkindergärten diesbezüglich selber keine klare Aussage macht. (Solange Waldorfkindergärten Mitarbeiter ohne zusätzliche Waldorfausbildung anstellen, kann auch rein rechtlich gesprochen der Beruf Waldorferzieherin nicht existieren.)

Die Frage ist nun: macht es Sinn die Aufgaben & Fähigkeiten & Tätigkeiten der Waldorferzieherin zu definieren & zu fixieren? Um dort hinzukommen, wird aber ein transparentes „Berufsbild“ oder – klingt offenbar besser – ein „Berufsprofil“ gebraucht, das noch nicht existiert. Ein Berufsprofil kann allerdings nur auf einer Beschreibung des Begriffes der Waldorferzieherin beruhen. Bevor man sich bemüht ein Profil festzulegen, sollte man versuchen sich an den Begriff heranzutasten.

Die Argumentation der Menschen die sagen, dass es prinzipiell keine Waldorferzieherin geben kann, beruht auf der unverkennbaren Tatsache, dass es sich um eine spirituelle Tätigkeit handelt. Würden sie sich auf die Terminologie von Michel Foucault einlassen, könnten sie sagen: die Praxis einer Waldorferzieherin ist nicht nur eine Sache des Subjekts, sondern auch des Selbstes; und die Sachen des Selbstes lassen sich gesellschaftlich nicht „subjektivieren“.

Das gilt aber auch für Ärzte & Rechtsanwälte & Lehrer & Künstler & Entertainer & Politiker & (staatlich anerkannte) Erzieherinnen. Die implizite Behauptung, dass nur Waldorferzieherinnen geistig tätig sind, scheint mir grundfalsch zu sein. Die Frage kann nur sein: worin unterscheidet sich die Waldorferzieherin von anderen Erzieherinnen?

An dieser Stelle gibt es nur zwei Wege: Entweder wehrt man sich gegen jegliche Form von „Subjektivierung“, was aber bedeutet, dass die Gesellschaft zwangsläufig auseinanderfällt – man versteckt sich in der Sprachlosigkeit & kommuniziert nicht mehr mit seinen Zeitgenossen; oder man freundet sich mit dem Gedanken an, dass das Unmögliche zumindest halbwegs ermöglicht werden kann. Das letzte heißt: über die Sprache zu versuchen, die unsagbaren Sachen des Selbstes zu „suggerieren“. Im Grunde ist das eine literarisch-sprachliche Tätigkeit.

Bevor ein Berufsprofil entstehen kann, muss also erst eine Beziehung zum Begriff Waldorferzieher hergestellt werden. Über Begriffe sind in diesem Zusammenhang zwei entscheidende Bemerkungen zu machen: erstens, dass sie nicht in Worte zu fassen sind, (weil Wörter laut Owen Barfield eben keine Flaschen sind – darüber nächste Woche mehr) & zweitens, dass wir denkend & fühlend & wollend auf sie zugehen müssen, oder wie Johannes Stüttgen es immer so treffend sagt: Begriffe sind Bestimmungen.

Ich werde nächste Woche versuchen, mich auf den Begriff der Waldorferzieherin einzulassen. Es wird natürlich bei einer Annäherung bleiben – zu mehr bin ich nicht im Stande. Meine Hoffnung ist aber, dass auch andere auf diesem Weblog (man kann immer einen Kommentar schreiben) oder an anderen Stellen versuchen, eine Sprachübung zu machen. Denn ein Ding ist klar: ohne frische & tiefe & leichte & fröhliche & fragende & bestätigende & umwerfende & beruhigende Beschreibungen kommen wir diesbezüglich nicht vom Fleck.

Mit Dank an Sophie Pannitschka

21.09.2009

Das schmerzvolle Zusammensein mit den Genauigkeiten des Physischen

Oben in der Arbeiterwohnung, direkt unter dem Dach, hatte mein Großvater seine Werkstatt, die man über eine schmale & wackelige Leiter erreichte. Dort eingeladen zu werden, war ein Privileg; dort eine Stunde zu verweilen, ein Ereignis. Dort nahm mein Großvater Eisen & Kupfer & Zinn & Blei in seine Hände, schaute nachdenklich darauf & machte entschieden etwas daraus. Unter seinen traurigen Augen & in seinen rauen Händen wurden Rohstoffe in die Welt der eindeutigen Bedeutungen erhoben.

Die Werkstatt war klein. An den Wänden hingen Werkzeuge, auf einer Werkbank standen Gasbrenner & Amboss, in einer Ecke gab es Körbe mit Schrauben, Muttern, Stangen, Röhren, Bolzen – alles richtig kleine Sachen. Mein Großvater war auf klein eingerichtet & zwischen den Kleinigkeiten bewegte er sich geschmeidig wie eine Katze. Er verstand sich nicht als ein einfacher Handwerker, sondern eher als ein Erfinder, was sich daran zeigte, dass er immer einen dreiteiligen Anzug trug, auch in der Werkstatt.

Er rauchte ständig Zigarren. Über der Werkbank & den Werkzeugen & den Gegenständen-im-Entstehen schwebten Rauchwolken, die irgendwie unsichtbare höhere Ebenen repräsentierten, so, als ob mein Großvater mit seinen Augen in das rauchige Weben schaute & dort die Gegenstände fand, die er eine Etage tiefer mit seinen Händen konstruierte. Als ich Jahre später den Begriff „Alchemist“ kennen lernte, dachte ich sofort an meinen Großvater.

In seiner Werkstatt war mein Großvater sehr-sehr-sehr bei sich. Er war in seinen Anzug & seine Zigarre & seine Hände & die Gegenstände-im-Entstehen versunken. Auf mich – ich stand klein in einer Ecke & schaute mit angehaltenem Atem zu – achtete er gar nicht mehr; ich fühlte mich eher wie ein Bestandteil einer vergessenen Welt, die er als Umfeld seiner Konzentration unbemerkt erzeugte.

Zwei Jahre war er damit beschäftigt, eine Miniatur-Dampfmaschine zu bauen. Nein, ich weiß noch immer nicht, wie er das schaffte, aber es ist wahr: unter seinen Händen entstanden winzige Röhrchen & winzigen Hähnchen, die er auf einer Kupferplatte befestigte & die sich über elegante Kurven fortsetzten, bis zu einem Fässchen, wo Dampf raus kam. Und irgendwo in der Mitte wurden Rädchen in Bewegung gesetzt. Als die ganze Maschinerie nach sechs Monaten richtig funktionierte, schaute er immer wieder nachdenklich darauf & lächelte.

„Mal schauen“, sagte er einmal, „was du mit deinen Händen machen kannst.“ Er gab mir eine Handvoll zerbrechlicher Röhrchen aus Kupfer und dazu noch winzig kleine Verbindungsstücke, die so klein waren, dass man eigentlich eine Lupe brauchte, um sie richtig zu sehen. Sie lagen vor mir auf einer Holzplatte. „Mach´ mal einen schönen Kreis daraus“, lautete der Auftrag.

Aber ich schwitzte & schwitzte. Ich war hilflos & wusste nicht einmal, wie ich die fast unsichtbaren Gegenstände mit meinen Fingern anfassen sollte. Mir schienen sie unberührbar zu sein. Der Auftrag meines Großvaters brachte mich in einen Bereich, in dem ich nicht zu Hause war & auch nicht zu Hause sein wollte. Und mein Großvater sagte geduldig: „Du vergisst zwei wichtige Sachen: du atmest nicht ruhig & du schaust nicht hin. Du willst etwas tun, bevor du die Dinge wirklich gesehen hast. Deine Hände sind nicht mit deinen Augen verbunden.“

Und so ist es mein ganzes Leben geblieben: mich auf die Genauigkeiten des Physischen einzulassen, tut richtig weh. Physische Präzision erzeugt Schmerzen in meiner Seele. Es ist, als ob dazu eine Verlangsamung & Distanzierung benötigt wird, die sich für mich wie Sterben anfühlt. In dem Zusammensein mit den Genauigkeiten des Physischen scheine ich mich zu verlieren. Dass das offenbar nicht so sein MUSS, hat mir aber mein Großvater gezeigt.

15.09.2009

Wahrheit und Dichtung in der Biographie. Über Penner und Kapitäne

Im Seminar für Waldorfpädagogik in Köln sprach Henning Köhler letztes Wochenende über Aggressionen bei Kindern. Wir waren mit etwa fünfzig Leuten zusammen & hörten zu & mischten uns ein. (Warum ich Henning Köhler als Lehrer bewundere, habe ich schon einmal in einem Blog beschrieben. Er schafft es immer, die Philosophen in seinen Zuhörern wachzurufen, das heißt: er vermittelt nicht nur bestimmte Inhalte, sondern er weckt auf.)

Im Fluss seiner Ausführungen tauchte auf einmal ein Thema auf, dass mich schon länger beschäftigt. Henning Köhler erzählte von einem Jugendlichen, der seinen Vater gar nicht kannte & doch seinen Freunden immer wieder fröhlich mitteilte, dass dieser „Seekapitän“ sei & mit seinem Schiff über die Ozeane führe. Als eines Tages ein Treffen zwischen dem Vater & dem Jungen organisiert wurde, entpuppte der herumreisende Seekapitän sich lediglich als Penner.

Die beiden machten einen langen Spaziergang & sprachen miteinander. Als sie zurückkehrten, war der Junge glücklich. Der Vater verschwand wieder für immer & der Jugendliche sprach weiterhin fröhlich davon, dass sein Vater ein Seekapitän sei, der mit seinem Schiff über die Ozeane führe. Aus irgendeinem Grund schien er einen Penner als Vater nicht zu brauchen.

Der Vater war also gar kein Kapitän. Oder war er irgendwie doch ein Kapitän? Wenn es um die Tatsachen unserer Biographie geht, benehmen wir uns wie moderne Menschen, die meinen zu verstehen was Geschichte heißt. Wir verhalten uns nicht nur wie private Historiker, sondern gleichzeitig auch wie Quellen. Wenn ich sage, dass ich bei Arnhem geboren bin, wird mir das abgenommen – ich meine: niemand wird meine Aussage in Frage stellen.

Die Aussage, dass ich bei Arnhem geboren bin, beinhaltet aber eine interessante Spannung. Am liebsten sage ich eigentlich, dass ich in Gelderland geboren bin; und das stimmt durchaus auch, aber irgendwie auch wieder nicht. Ich bin nämlich in Doesburg geboren, einer Kleinstadt nicht weit von Arnhem, die in der niederländischen Provinz Gelderland liegt. Weil ich Doesburg ein-kleines-bisschen-eigentlich-nicht-so-sehr mag, Arnhem aber schon viel mehr & Gelderland so richtig liebe, bekenne ich mich gerne zu dieser Provinz.

Doesburg fühlt sich irgendwie wie ein dunkles Loch an, wo ich unbemerkt heraus gekrochen bin. Wenn ich aber an Gelderland denke, zeigt sich sofort eine sonnige Fülle: der Veluwe mit seinen endlosen Wäldern & Legenden & strahlend-offenen Sandhügeln, der Betuwe zwischen den Großmächten Rhein & Waal & Maas, der Achterhoek als „Hinter-Ecke“ - dort findet man uralte schlafende Dörfer, die sich nicht von weltlichen Ereignissen beeinflussen lassen.

Gelderland ist mein Kapitän & Doesburg mein Penner. Nun könnte-müsste-dürfte man an dieser Stelle die Frage stellen, ob ich nicht eigentlich die Neigung habe, meine Vergangenheit ein kleines bisschen zu verleugnen. Die Antwort lautet natürlich: „Ja“. Dieses „Ja“ heißt aber nicht, dass ich nicht sagen dürfte: ich bin „bei Arnhem“ oder eben „in Gelderland“ geboren. Die Gesetze, die für Reisepässe gelten, sind nicht unbedingt auch für Biographien zuständig. Und ich verstehe das auch: wenn ein Beamter mich fragt, wo ich geboren bin, sage ich einfach: „Doesburg“ (und sofort füge ich hinzu: „Nein, nicht Duisburg! D-O-E-S-B-U-R-G, das gibt’s ja auch, liegt allerdings in den Niederlanden!“)

Wir komponieren unser Leben nicht nur nach vorne in die Zukunft hinein, sondern auch rückwirkend bis in unsere Vergangenheit. Ständig sind wir damit beschäftigt, das was gewesen ist, neu zu benennen & eben neu zu gestalten. Man könnte diese konstruierende Tätigkeit auch ein Umlügen nennen – ein schönes Wort, womit die Sache sofort auf einen Punkt gebracht wird.

Wenn der Jugendliche behauptet, sein Vater wäre ein Seekapitän, lügt er dann? Auf der historischen & juristischen Ebene natürlich: „Ja“. Auf der legendarischen & poetischen Ebene aber: „Nein“. Die Frage an dieser Stelle kann nur sein: was macht seinen Vater-der-Penner zu einem Kapitän?

Was ist ein Penner? Ich weiß es immer noch nicht so genau. Mir scheinen Penner aber Menschen zu sein, die auf irgendeine Art & Weise sehr intensiv mit etwas ganz Bestimmtem beschäftigt sind. Wenn ich einen Penner sehe, denke ich immer: Herr, was ist deine Mission? Er wendet sich ab von mir & von allen & von allem & scheint sich auf gar nichts einzulassen. Innerlich aber scheint er sich auf unbekannte & ungreifbare & konfuse Koordinaten zu konzentrieren. Penner sind seelisch unterwegs. Sie machen Reisen, die ich nicht kenne & nicht verstehe – ja, irgendwie sind sie schon Seekapitäne.

(Und ach ja, natürlich, John. F. Kennedy damals: „Ich bin ein Berliner!“)

07.09.2009

"Der Rhein gehört zu meinem Leben". Über Basel, Köln und Amsterdam

Der Rhein ist ein komplexes System. Bei Schaffhausen & Basel & Freiburg bietet er die Vorstellung von reinem Willen an – dort braust & plätschert & springt sein Wasser. Ab Breisgau fängt er langsam an, sich selbst zu ergreifen & irgendwo hinter Mainz bereitet er sich auf den Zustand des Gleichgewichts vor. Kurz nach der Loreley kriegt der Rhein seine eigene Kurve & kreiert eine Ausgewogenheit, die in Köln vollständig ausgebildet ist. Ab Arnhem gerät der Rhein in die niederländische Diaspora: er wird langsamer & spaltet sich großzügig & verfeinert sich allmählich in tausend stille Fasern & ähnelt damit dem menschlichen Gehirn.

Der Rhein gehört zu meinem Leben. Ich habe seine kräftige Ruhe in Arnhem kennengelernt, der Stadt meiner Jugend. Dort habe ich gesehen, wie er gelassen an den Ruinen des zweiten Weltkrieges vorbei floss, so, als ob es sie nicht gäbe. Und beim Schloss Doorwerth habe ich seine Offenheit gesehen: er fließt da mächtig-aber-still unter dem Himmel um des Himmels Willen. Bei Arnhem scheint der Rhein sich in ein Sinnesorgan zu verwandeln.

Ich bin an seinem schönsten Seitenarm geboren, an der IJssel, bei Doesburg. Dort habe ich gelernt, wie man Hechte & Zander & Brachse fängt. Ich habe das Leben auf den Rheinkähnen beobachtet, diese tiefen Schiffe, die vollgeladen fast unter der Wasseroberfläche verschwinden, ohne zu sinken; die Menschen auf Deck schienen mir immer doppelt unterwegs zu sein: von Arnhem nach Kampen oder umgekehrt & weg von den überschlagenden Wellen an Bord, hin zu den trockenen Kajüten.

Und in den Jahren, in denen ich in Zutphen lebte, habe ich die Sprache des Rheins gehört. So horizontal er sich auch benahm, so vertikal war seine Sprache ausgerichtet. Er hörte immer auf die Wolken & den Himmel & den Wind & die Möwen, die in einem Vierklang sagten: bei uns hier oben bewegt sich etwas, das sich gerne in dir, du schlafender Einwohner von Zutphen, fortbewegen möchte.

Auf dem IJsselmeer, wo sich ein Viertel des Rheinwassers sammelt, bin ich mit kleinen Schiffen gesegelt & habe verstanden, wie man sich mit dem Wind & den Wasserströmen unterhält. Sehen & Hören werden dort eins. Auf dem Binnenmeer bin ich auch dem Wikinger Olof begegnet, der in einen wilden Sturm geraten war & verzweifelt Christus versprach eine Kapelle zu bauen, falls er überleben würde. Er überlebte & stiftete Amsterdam & Amsterdam & die Olofkapelle gibt es noch immer.

In den Grachten von Amsterdam habe ich gesehen, wie das Wasser des Rheins in eine nachdenkliche Stille versetzt wird. Zwanzig Jahre in Amsterdam zu leben, heißt auch: sich bemerkt oder unbemerkt der spiegelnden & verwandelnden Einkehr des Wassers aus Deutschland zu widmen. Vor allem an den herbstlichen Abenden, zwischen fünf und sieben Uhr, schimmert ein Hauch von Gold im ruhenden Wasser – als ob etwas von unten aus der Erde nach oben glüht & sich sichtbar-unsichtbar zeigt.

Rembrandt Harmensz. van Rijn hat dieses goldene Flimmern wohl gesehen; und der große niederländische Dichter Joost van den Vondel – er lebte auch in Amsterdam, wurde aber in Köln geboren – hat es wohl gehört. In seinen Gedichten spricht oft die melancholisch-goldene Abschiedsstimmung des Rheins, die dadurch entsteht, weil die Menschen das Wasser für eine Weile künstlich zurückhalten, bevor es sich in den Atlantik verliert. Joost van den Vondel nahm nur das Leben ernst, das vom Tod berührt war.

Nicht umsonst wird von Amsterdam gesagt: die Stadt ist andauernd im Versinken.

Letzten Endes habe ich in Köln den Rhein als Herz kennen gelernt. Irgendwo zwischen der Loreley und Köln scheint der Rhein in sich selbst aufgehoben zu werden & seine Mitte zu finden. Sein Stauen & Klopfen & Fließen wird kräftig-aber-gehalten, als ob er eigentlich nichts mehr tun muss, um zu sein was er ist: Rhein. Um zu sich zu kommen, braucht er sich nicht impulsiv nach vorne zu drängen oder sich nachdenklich zu erinnern was er mal war.