Über Licht und Dunkel. Ein hinduistischer Mönch in Singapur
Die Erzählung von Licht & Dunkel gehört zweifellos zu den maßgebenden „Bedeutungsfeldern“ der Menschheit. Mit dem Zunehmen oder Abnehmen des Lichtes – und damit verbunden dem Zunehmen oder Abnehmen des Dunkels – sind entscheidende Begriffe verbunden, wie Leben & Tod, Gut & Böse, Wahrheit & Lüge, ja eben Schönheit & Hässlichkeit. Die Erzählung von Licht & Dunkel ist eine richtige Erzählung.
Was ist eine richtige Erzählung? Richtige Erzählungen erzählen nicht von Ereignissen, sondern sind Ereignisse. Sie machen die Ereignisse, von denen sie nicht erzählen, zum Ereignis. Richtige Erzählungen werden im Grunde genommen nur einmal erzählt, immer wieder nur einmal erzählt. Das Wiederholen von richtigen Erzählungen beruht auf der Tatsache, dass sie immer wieder neu erzählt werden können, als hätten sie keine Geschichte.
Das, was die Geschichte ausmacht, wird in richtigen Erzählungen bis zum Nullpunkt zurück gebracht. Erzählungen vibrieren im Jetzt. Richtige Erzählungen heben die zeitlichen Kategorien von Vergangenheit & Gegenwart & Zukunft auf. Sie stoßen diese drei in einen aufsteigenden Wirbel, den man selbstverständlich Gegenwart nennen darf – eine Gegenwart allerdings, die Vergangenheit & Gegenwart & Zukunft umfasst.
Die Gegenwart gibt es zweimal. Einmal als eine untergeordnete zeitliche Einheit in einem gedanklichen Rahmen, die mit den Begriffen Vergangenheit & Gegenwart & Zukunft angedeutet wird. Und einmal als eine übergeordnete Einheit, die alle drei Begriffe umfasst & im Grunde genommen mit der Zeit gerade nichts mehr zu tun hat. Nur in dieser übergeordneten Einheit finden die Vorgänge statt, die wir Ereignisse nennen.
Eine richtige Erzählung ist also die Erzählung vom Zunehmen des Lichtes. In unserer Gegend kennen wir diesen Vorgang in zwei Gestalten: einmal pro Tag & einmal im Jahr. Jeden Morgen wieder nimmt das Dunkel ab & das Licht nimmt zu. Und im Dezember, in der Weihnachtszeit & kurz danach, passiert das gleiche, allerdings so, dass das Dunkel für ein ganzes halbes Jahr ins ständige Abnehmen versetzt wird. Das Licht dagegen bleibt bis Juni im Kommen.
Es gibt Gegenden, in denen man diesen zweiten Vorgang nicht kennt. In Singapur zum Beispiel, nicht mehr als fünfzig Kilometer vom Äquator entfernt, findet die Abwechslung von Licht & Dunkelheit über das ganze Jahr morgens & abends genau um etwa sieben Uhr statt. Es gibt dort jeden Tag genau zwölf Stunden Dunkelheit & zwölf Stunden Licht. (Und ganz eigenartig: der Übergang ereignet sich immer innerhalb von fünfzehn Minuten. Stundenlange Dämmerungen sind dort ein unbekanntes Phänomen.)
Zu einer richtigen Erzählung vom Zunehmen des Lichtes gehört also die Gegebenheit, dass sie auf unserem Planet unterschiedlich wahrgenommen & erlebt wird. Oder vielleicht besser gesagt: das Wachsen des Lichtes kennt mehrere Gesichter. Und weil die Erde rund ist – mittlerweile dürften alle Erdbewohner das wissen – bedeutet dies, dass die Zahl der Gesichter festlegt werden kann. Es gibt nicht weniger als 360 richtige Erzählungen von Licht & Dunkel.
Dieses globale Wissen erzeugt in der Erzählung vom Zunehmen des Lichtes einen Sprung. Wenn wir daran festhalten, dass zu der Erzählung vom Zunehmen des Lichtes die Vorstellung von der Geburt eines Kindes gehört – geben wir ihm einen Namen: Jesus – und dazu noch immer meinen, dass diese Geburt für alle Menschen auf der Erde eine wesentliche Bedeutung hat, müssen wir einen Sprung in einen Wirbel machen.
Ich war vor ein paar Wochen in Singapur in einem hinduistischen Tempel, der Göttin Kali geweiht, Herrscherin der Dunkelheit. Genau um zwölf Uhr mittags erschien ein alter Mönch, der kaum noch gehen konnte – er wackelte durch den Raum, seine Augen noch oben gedreht. Erst meinte ich spontan, dass er betrunken wäre. Weil aber eine lange Reihe von Menschen gespannt auf ihn wartete, kam ich auf den Gedanken, dass er als ein Heiliger angesehen wurde.
Ich schloss mich der Reihe der Wartenden an. Als der Mann bei mir angekommen war, schaute er über mich hinweg – ich glaube nicht, dass er mich richtig gesehen hat – so, als ob ich eigentlich irgendwo anders wäre, ganz weit oben im Himmel. Wie bei den Anderen rieb er mit seinem Finger eine weiß-gelbe Farbe auf meine Stirn.
Ich hatte & habe keine Ahnung davon, in welchem Ritual ich mich eigentlich befand. Entscheidend für mich war aber die Erfahrung, dass der Blick des Mönchs mich an einer Stelle zu suchen schien, an der ich mich normalerweise bei Tagesbewusstsein gar nicht erlebe, nämlich ganz oben im Licht. Ich hatte die Neigung, mich umzudrehen & nach oben zu schauen, um mich zu finden.
Als ich kurz darauf wieder auf der bunten Straße war, merkte ich, wie die Ausweitung nach oben dazu führte, dass ich mich unten ganz klein & unbeholfen empfand. Das Leben hier unten schien keine Bedeutung mehr zu haben. Es war, als ob es eine Kluft zwischen oben & unten, Licht & Dunkel gab – ohne Brücke, ohne Beziehung, ohne Dialog. Und ich stellte fest, wie sehr mein Selbstverständnis mit Dämmerung zu tun hat. Ich verstehe mich als einen Menschen, der sich in der Dämmerung immer wieder findet.
Die Erzählung des hinduistischen Mönchs ist aber genau so richtig, weil die Erde eben rund ist. Sie scheint zu bedeuten, dass etwas von mir sich in der Tat weit weg von mir ganz oben im Licht befindet. Diese Erkenntnis dämmert mir nicht ein, sondern erreicht mich eher wie ein Schock & macht das Leben für eine Weile zum Witz. Ich sage mir, was die Göttin Kali sagt: das Leben auf der Erde ist Maya.