17.09.2011

Kognitionswissenschaft. Über selbstbildende Ereignisse

Die souveräne Existenz des Selbst (oder des Ich) des Menschen lässt sich nicht einwandfrei positiv „beweisen“ oder negativ „verneinen“. In der Kognitionswissenschaft wird gerade das Letztere versucht. Daniel C. Dennet zum Beispiel meint in seinem Buch Philosophie des menschlichen Bewusstseins klar belegen zu können, dass das Selbstbewusstsein nichts Souveränes innehat, sondern eher als eine wilde Ansammlung von willkürlichen „Erzählungen“, die der Mensch sich selbst „erzählt“, um in dem biologisch-evolutionären Prozess zu überleben, zu verstehen wäre.

Und der Gehirnforscher John R. Searle kommt in seinem Buch Geist. Eine Einführung zu der Schlussfolgerung: „Zusätzlich zu einer Abfolge von Erlebnissen und dem Körper, in dem diese Erlebnisse stattfinden, gibt es nicht noch so etwas wie das Selbst. Wenn ich versuche, meine Aufmerksamkeit nach innen zu richten und eine Entität zu beobachten, die mich wesentlich ausmacht, dann finde ich [...] nur einzelne Erlebnisse. Da ist kein Selbst zusätzlich zu diesen Erlebnissen“. Dass wir trotzdem so etwas wie eine kontinuierliche Identität erleben, beruht laut Searle auf dem Umstand, dass wir uns an Erlebnisse aus der Vergangenheit erinnern können.

Es ist in diesem Text nicht meine Aufgabe, die philosophischen und wissenschaftlichen Überlegungen gegen die Existenz des Selbst zu widerlegen – ich wäre damit auch heillos überfordert. Ich kann aber ein Denkangebot machen, das zwar von Argumenten unterstützt wird, im Grunde genommen aber auf Erfahrungen beruht, auf Erlebnissen also, die, anders als Searle meint, nicht als „zusätzlich“ zu verstehen sind. Die Begegnung mit meiner Hoheit und mit den Hoheiten der anderen Menschen ist aus meiner Sicht ein Ereignis, das als Ereignis keine Begründung braucht, genau wie ein Kuss, ein Krieg, eine Geburt, ein Sterben, ein Blitz vom Himmel oder eine Begegnung mit einem anderen Menschen dies auch nicht braucht, um das zu sein was sie alle sind: Ereignisse.

Wie kämen Dennet und Searle übrigens ohne Ereignisse aus? Auch sie begründen ihre Sichtweisen auf Erlebnisse, die allerdings in einem bestimmten Rahmen angenommen oder eben gerade abgewiesen, beziehungsweise dekonstruiert werden, nicht weil sie aus irgendeinem Grund als Ereignis nicht überzeugen, sondern weil sie Unbehagen erzeugen.

Anders gesagt: Die Erfahrung des Selbst lässt sich in der Tat schwer denken und einordnen, das heißt, es lässt sich nicht mit anerkannten Mitteln der Wissenschaft in das theoretische Gebäude der Wissenschaft integrieren. Eigentlich würde es schon reichen von der Idee (nicht einmal der Existenz) des Selbst zu sprechen: Sie sprengt alle Rahmen. Sich allerdings von dieser Idee zu verabschieden, würde einfach heißen, dass auch das Buch von Dennet nur „Erzählungen“, die er sich selber zum Überleben erzählt, beinhaltet.

Sein stolzes Buch, mit dem stolzen Titel und dem stolzen Eigennamen würde lediglich die Illusion bieten, die er gerade versucht zu demontieren. Sein Buch als Ereignis beruht auf einem Widerspruch, einfach deshalb, weil auch Dennet nicht ohne selbstbildende Ereignisse auskommt.

10.09.2011

Götz Aly. "Warum die Deutschen? Warum die Juden?"

In seiner vor Kurzem erschienenen Publikation „Warum die Deutschen? Warum die Juden?“ versucht der Historiker und Politikwissenschaftler Götz Aly den Holocaust als eine Beziehungsfrage zu verstehen. Er geht der Thematik nach, was etwa ab 1800 zwischen den Deutschen und den Juden geschehen ist und beschreibt die Spannungen, die dazu geführt haben, dass im Dritten Reich sechs Millionen Juden umgebracht wurden.

Die Kraft des Buches liegt in seiner Einfachheit. Götz Aly begibt sich kaum in philosophische oder zeitgeschichtliche Überlegungen, verzichtet fast komplett auf „grundlegende“ Fragen über das Gute und das Böse, spekuliert nicht über weltanschauliche Hintergründe, sondern lässt einfach Tatsachen sprechen. Der Leser begegnet einem sauberen Historiker mit trockenen Fingern, der sich durch Hunderte von schriftlichen Quellen gearbeitet hat. Viel mehr als zitieren, macht Götz Aly im Grunde genommen nicht.

Ein paar Tatsachen reichen, um eine Vorstellung davon zu bekommen, was das Buch beinhaltet. „In Preußen“, stellt Aly beispielsweise fest, „lag der Anteil jüdischer Studenten (an den Universitäten. JvdM) 1886/87 bei knapp zehn Prozent, der Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung bei knapp einem Prozent“. Und: „In der Regel begannen Juden das Studium erheblich früher und studierten schneller als die christliche Kommilitonen“. Ein preußischer Statistiker bemerkt in diesen Jahren: „Die jüdischen Studierenden scheinen danach durchschnittlich mehr Befähigung zu besitzen und mehr Fleiß zu entwickeln als die Christen“.

Und in einem Inspektionsbericht des großherzoglichen badischen Bezirksamts über die Geschicke des südbadischen Gailingen: „Noch vor 40 bis 50 Jahren hatte die große Mehrzahl der Israeliten dem ärmeren Teil der Einwohnerschaft angehört“. Jetzt übertrafen sie die christlichen Bürger „bedeutend an Vermögen.“ Der Inspektor stellt fest: „Fast alle größeren Häuser sind im Besitz von Israeliten“. Die Handelskammer der Stadt Köln beschrieb bereits Anfang 1800 die jüdischen Bürger als „üppiges Schlingkraut".

Die Deutschen dagegen zeigten sich als langsam, konservativ, träge. Sie kamen mit den rasanten Entwicklungen in der Gesellschaft nicht mit. Sie waren „die Dümmeren“, die an einem „sich über sich selbst unklaren Gefühl“ litten (Ludwig Bamberger, 1880). Der Zionist Heinrich York-Steiner schreibt 1932: „Das deutsche Selbstempfinden ist das unsicherste aller großen Nationen Europas“. Die Deutschen bleiben in den traditionellen und ländlichen Verhältnissen hängen, die Juden steigen aktiv ins moderne und städtische Leben ein.

Das Ergebnis war Neid, der sich über Jahrzehnte in vielen Deutschen einnistete. Der Neid wurde – wie ein Hund – ein fester Bestandteil des deutschen Haushalts, wurde eigentlich nicht beachtet, auch nicht wenn er gelegentlich laut gebellt hat. Langsam wurde der Jude zur Karikatur: er ist nicht schlau, sondern listig, nicht fleißig, sondern gierig, nicht wach, sondern herrschend...

In meinen Worten: Der Neid machte die jüdischen Bürger zu Doppelgängern. Sie wurden nur noch als bedrohende Unwesen wahrgenommen, ohne Seele, ohne Biographie, ohne Berechtigung. Sie sind die Schatten der Deutschen geworden. Ich brauche an dieser Stelle nicht auszuführen, wie in den dreißiger Jahren die Nationalsozialisten das über Jahrzehnte entstandene Schattenreich instrumentalisiert haben.

In der Einleitung seines – sehr überzeugenden – Buches spricht Götz Aly von „der Frage aller Fragen“: „Warum ermordeten Deutsche sechs Millionen Männer, Frauen und Kinder, und das aus einem einzigen Grund: weil sie Juden waren?“ Übrig bleibt die Frage: Hat Aly nun mit seinem Buch diese schwerwiegende Frage beantwortet? Ich würde sagen: mehr als halbwegs, allerdings nicht vollständig.

Im Kern seiner Betrachtungen steht der Neid. Um individuell oder kollektiv mit den verheerenden Wirkungen des Neides umgehen zu können, werden erstens Selbsterkenntnis und zweitens Ideen und Begriffe gebraucht. Nicht der Neid alleine war das Problem, sondern auch die Tatsache, dass eine kleinliche weltanschauliche Gesinnung herrschte. In seinen Betrachtungen wird klar, dass im damaligen Deutschland eine sehr beschränkte Auffassung von - zum Beispiel - Freiheit herrschte. Die Deutschen trauten sich eine innere souveräne Freiheit nicht zu.

Wie ist zu verstehen, dass gerade in Deutschland, dem Land der idealistischen Dichter und Philosophen, der großen Ideen und Begriffe, diese Wirkung weitgehend verloren ging? Was hatte dazu geführt, dass dem Neid nicht eine klare Stirn geboten wurde? Mir scheint diese Frage noch immer frei im Raum zu schweben. Und vermutlich ist es so, dass wir gerade auf der gedanklichen Ebene, heute nicht viel weiter sind als damals. Götz Aly hat deswegen auch völlig recht, wenn er am Ende seines Buches schreibt: „Ein Ereignis, das dem Holocaust der Struktur nach ähnlich ist, kann sich wiederholen".

04.09.2011

Der ferne Freund

Er kommt vorbei, der ferne
Freund, Meister der Hauses,
stündlich immer wieder,
sein Rhythmus ist ein Takt
ohne Ende. Ich höre
seine Stimme nicht, er schweigt;
ich höre die Schlüssel,
die ihn begleiten, die Tür,
die er öffnet. Er geht
stündlich über den Hof,
wie ein Mönch, trägt
seine großen Wahrheiten
in seinem Gang, er hört
einen Gesang in seinen Ohren,
er ist sprachlos von Wahrheit.
Er geht an den Tonnen
vorbei, den Gelben, Grauen
und Blauen, hält inne, flüstert,
versteckt den Schlüsselbund
in seiner schweren Jacke,
hebt den blauen lachenden Deckel,
drückt den Karton nach unten
und murmelt: Klappe halten...