28.10.2012

Wouter Hanegraaff. (1) Der verdorbene Begriff des Esoterischen

In seinem bemerkenswerten Esotericism and the Academy. Rejected Knowledge in Western Culture, 2012 in Cambridge erschienen, beschreibt Wouter J. Hanegraaff die Geschichte des esoterischen Denkens in der westlichen Kulturwelt. Professor Hanegraaf geht diskursiv-konstruktivistisch vor und dass heißt, er bewertet die inhaltlichen Ergebnisse des esoterischen Denken als solche nicht, sondern dokumentiert an Hand zahlreicher Quellen, wie das westliche esoterische Denken in der Renaissance entstanden ist, sich während der Zeit der Aufklärung weiter entwickelte und das zwanzigste Jahrhundert erreichte.

Bemerkenswert an seinen Untersuchungen ist, dass er das esoterische Denken nicht als irgendeine komische Nische in der Geschichte des modernen Denkens behandelt, sondern als ein Hauptakteur ansieht. Hanegraaff stellt überzeugend da, dass etwa die philosophische Aufklärung ohne das esoterische Denken nie in Erscheinung getreten wäre. Esoterisches Denken und aufgeklärtes Denken zeigen sich wie Brüder, wie Kain und Abel.

Im fünfzehnten Jahrhundert sind es vor allem die platonischen Humanisten wie Marsilio Ficino und Pico della Mirandola, die sich in Florenz darum bemühen, eine Art Brücke zu schlagen zwischen den alten Weisheiten aus dem Orient und dem Christentum. In den alten vorchristlichen Mysterien sehen sie eine Vorbereitung der christlichen Offenbarungen. Für Ficino zum Beispiel war Orpheus ungefähr identisch mit Christus, für Pico war die jüdische Kabbala eine verborgene Lehre, die direkt auf Moses zurückging. Im Denken der Früh-Renaissance spielte auch der Perser Zarathustra eine große Rolle, er wurde als der Urheber des „magischen“ Weltbildes angesehen, was im Kern hieß, dass die Natur als eine von geistigen Wesenheiten erfüllte Wirklichkeit verstanden wurde.

Der geistige Humanismus von Ficino und Pico wurde von Anfang an von Seiten der christlichen Aristoteliker (sie waren auf Thomas von Aquin orientiert) kräftig attackiert. Hanegraaff spricht diesbezüglich von einem „Schatten“ des Humanismus: Je stärker die Platoniker die alten Weisheiten ins Licht ihrer Aufmerksamkeit rückten, je vehementer wiesen die Aristoteliker sie als heidnisch und häretisch zurück.

Und als sich dann etwa ein Jahrhundert später die Bühne verwandelte – was sich bisher als „theologische“ Debatte innerhalb der Katholischen Kirche vollzogen hatte, wurde eine „wissenschaftliche“ und somit „akademische“ Auseinandersetzung – kamen neue Werte ins Spiel. Was bis dahin noch „häretisch“ genannt wurde, wurde ab jetzt einfach „dumm“ genannt. Aus den sehr differenzierten Vorstellungen von Magie, Alchemie und Okkultismus wurden Karikaturen gemacht, die sich leicht anfechten ließen. Anders gesagt: die Inhalte und Arten des esoterischen Denkens wurden nicht mehr wahrgenommen, sondern als Aberglaube vom Tisch gewischt.

Dass allerdings Chemie nicht ohne Alchemie und Astronomie nicht ohne Astrologie denkbar ist, wurde aus dem europäischen Gedächtnis gestrichen. Hanegraaff betont die enge Beziehung zwischen dem esoterischen und dem naturwissenschaftlichen Denken, zeigt vor allem auch wie paradox die Verbindung ist. Der Vergleich zwischen Abel und Kain (kommt von mir, nicht von Hanegraaff) sagt etwas Wesentliches über die Beziehung aus. Was augenscheinlich wie zwei getrennte Welten aussieht, beruht im Grund genommen auf einem gemeinsamen Werdegang.

Über die Rosenkreuzer und die Freimaurerei (die „Erzählung“ von geheimen okkulten Organisationen) kommt Hanegraaff im neunzehnten Jahrhundert zu Figuren wie Eliphas Lévi und Arthur Edward Waite, autodidaktische und esoterische Forscher, die von der akademischen Welt vollkommen negiert wurden. Hanegraaff weist fein darauf hin, dass alles was irgendwie mit Magie zu tun hatte, von der akademischen Welt mit „magischer“ Macht ins Belanglose und Lächerliche befördert wurde.

Ich werde in den nächsten Wochen weiter über Hanegraaff schreiben. Für heute noch das Folgende. Aus den Ausführungen von Hanegraaff geht klar hervor, dass der Diskurs zwischen Esoterik und Aufklärung nicht vorbei ist, ganz im Gegenteil, wer den Werdegang der Moderne ernst nimmt, nicht nur historisch, sondern auch in Bezug auf die europäischen Werte (wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit), die er erzeugt hat, kommt nicht drum hin, sich die Frage zu stellen: Welche (ironisch genug: verborgenen) Bausteine hat das esoterische Denken der heutigen Kultur geliefert?

Der Ansatz von Hanegraaff kann dazu beitragen, dass der offenkundig verdorbene Begriff des Esoterischen und Okkulten aus einem muffigen Keller hoch geholt, ans Tageslicht befördert und gereinigt wird. Man wird dann sehen können, dass das esoterische Denken nicht einfach „dumm“ ist, sondern eine feinsinnige Betrachtungsweise des Lebens darstellt, ohne welche es so etwas wie Freiheit nicht gäbe.

14.10.2012

Eine alte Taube im Garten

Herbst, Samstagmorgen, der Wind spricht leise in den Bäumen. Nebenan öffnet eine Nachbarin ein Fenster, das Geräusch ist mir wohl vertraut, es ist jeden Morgen da, heute klingt es allerdings bescheiden und still. Die Wäsche steht zum Trocknen auf dem Innenhof, regungslos, gelassen, fast steif gefroren. Und ja, die Mülltonnen, sie schweigen dazu.

Und sogar die Züge – sie fahren im Minutentakt an meinem Garten vorbei – scheinen heute inne halten zu wollen. Komplett still zu bleiben schaffen sie nicht, es sind halt Züge, irgendetwas in der Luft dämmt jedoch die mechanischen Klänge, umarmt das, was übergriffig sein könnte, leitet es um, in eine Tiefe, in ein unterirdisches Ohr.

Etwas Mächtiges hört heute früh zu. Nun ist es mit dem Hören so, dass immer eine Hoheit dahinter steckt, „etwas“ hört zu, hören ohne eine Wesenheit gibt es nicht, Ohren haben immer einen bestimmten Träger. Mir ist klar, dass die Hoheit, die gerade zuhört, groß sein muss, vielleicht heißt sie Köln, vielleicht Rheinland, vielleicht hat sie einen Namen, den ich nicht kenne. Ich spüre jedoch, dass sie da ist, und auch die Vögel merken ihre Präsenz, sie sitzen auf den Ästen und Dachrinnen und warten ab.

Kleine Ohren können in großen Ohren aufgehen, mit den Elstern und Raben und Amseln höre ich also zu, versuche mit meinen Ohren das große Ohr zu finden, das gerade so mächtig zuhört. Mein Hören fügt sich in „etwas“ ein, in ein Hören, das sich zwar von mir nicht direkt identifizieren lässt, jedoch alles andere als anonym ist. Ich merke allerdings, dass die Hoheit sich nicht versehentlich verbirgt, ganz im Gegenteil, sie möchte bei ihrem wahren Namen genannt werden.

Und dann geschieht etwas Unwahrscheinliches. Neben mir, keine zwei Meter von mir entfernt, landet ganz still, sanft und leise, fast geräuschlos, eine Taube. Und sie schaut mich an. Sie ist groß und offenbar alt, sie wirkt erschöpft, als könne sie auf der Stelle sterben... Ihr oranger Schnabel leuchtet im Morgenlicht hell auf, wie ein Schmuckstück aus einer alten arabischen Geschichte. Sie wackelt auf ihren Füßen, schaut mich nochmals an und fängt dann holprig an, etwas Essbares im Gras zu suchen.

Und sie sagt mir: Der Name der bedachtsam zuhörenden Hoheit heißt Frieden. Und auf einmal ist mir klar, welche dringend-stille Frage mich aus der leisen Sprache des Windes in den Bäumen, aus der hängenden Wäsche auf dem Hof, aus den gedämmten mechanischen Geräuschen der Züge versucht zu erreichen. Die Frage lautet: Gibt es in Dir Platz für mich, für die Hoheit namens Frieden?

Ich schreibe in Frieden.

Und als mein Schreiben friedvoll vollendet ist, fängt der Wind an lauter zu sprechen, die Raben nehmen ihren üblichen Diskurs wieder auf, und ja: Hunderte von Gänsen ziehen laut kreischend hoch über mir her. Und die alte Taube ist auf einmal verschwunden. Der Friede ist mächtig, man braucht ihm nur zu lauschen und ihn in sich aufzunehmen.