26.08.2014

Mut zu Lücken (2). Wenn ein Kind tot geboren wird

Wenn Menschen sterben, hinterlassen sie Lücken. Sie sind nicht mehr da, wenn wir morgens aufstehen, uns mittags an den Esstisch setzen und abends wieder ins Bett gehen. Dieses Nicht-mehr-da-sein entsteht dadurch, dass die Präsenz der verstorbenen Person keinen Fokuspunkt mehr auf der physische Ebene hat. Der Körper ist verschwunden, einfach „weg“. Das schöne deutsche Wort „weg“ hängt mit dem Mittelhochdeutschen „enwec“ zusammen, was „auf dem Weg sein“ bedeutete; es heißt also: nicht mehr hier, sondern irgendwo anders zu sein.

Die hinterlassenen Lücken sind von Erinnerungen erfüllt. Am Esstisch erinnern wir uns zum Beispiel an die Geschichten, die der Verstorbene uns immer wieder erzählte, wir hören dann den Nachklang seiner Stimme (die immer noch in uns vibriert), erleben nochmals und nochmals wie er mit seinen schmalen Fingern das Brot aus den Korb nahm, es bedächtig brach, es langsam zwischen seinen Zähnen zermalmte... Und wir brauchen nur unsere Augen zu schließen, um wieder zu „sehen“, wie er nach dem Essen behutsam die Teller einsammelte und in die Küche trug.

Ganz anders sind die Lücken, die von jung-all-zu-jung Verstorbenen hinterlassen werden. Wenn ein Kind tot geboren wird – auf Englisch: „still born“ – spüren wir eine Lücke, die nur ein Fragezeichen beinhaltet. Sie macht uns sprachlos, bietet uns keine Festpunkte, stößt uns ins Offene und Unbestimmte. Die Lücke ist widersprüchlich, einerseits ist sie unfassbar klein und still – ein winzig kleiner Körper, der regungslos in unseren Armen liegt, die Augen zu, die Hände nur augenscheinlich zum Greifen bereit, ohne Leben, ohne Bewegung.

Andererseits ist die Lücke unfassbar groß, sie weitet sich aus bis in eine Ferne, die grenzenlos ist und über alle Worte hinausgeht. Und in dieser Spannung zwischen Nähe und Distanz werden unsere Gefühle erweckt, werden ALL unsere Gefühle erweckt: Wir erleben Traurigkeit und irgendwie auch Freude, Erschütterung und Hoffnung, wir spüren ein Versprechen, dessen Einlösung ungewiss ist. Wenn Geburt und Tod zusammenfallen, werden Denken und Wollen erstmals ausgeschaltet; es sind unsere Gefühle, die – wie ein Regenbogen – die innere Landschaft bestimmen.

In dieser Lücke gibt es keine Erinnerungen, keine handfesten Erwartungen oder eben Ansprüche, keine Erklärungen und keine Pläne. Sie ist als eine Lichtung in Raum und Zeit zu betrachten, bezieht sich nicht auf Vergangenes, auch nicht auf Zukünftiges, ist nur – wie das immer mit Gefühlen so ist – auf die Gegenwart ausgerichtet. Sie ist ein Ort, wo Vergangenheit und Zukunft in einer vertieften und erhöhten Gegenwart umfasst werden, in einer gesteigerten Gegenwart also.

Diese Lücke zu betreten erfordert Mut, gerade weil sie keine geplanten oder eben gewollten „Umsetzungen“ zulässt. Die einzigen Vorsätze, die man in ihr handhaben kann, beziehen sich auf das große Kleine und das kleine Große, dass man „Sein“ nennt. Das Fragezeichen in dieser Lücke ist gleichzustellen mit der Frage nach dem Rätsel des Menschen. Die Antwort auf diese Frage – Was ist der Mensch? – liegt darin, dass wir sie in Raum und Zeit stehen lassen, vielleicht besser gesagt: Dass wir sie erstmals gerade nicht beantworten.

24.07.2014

-+ Mut zu Lücken. In Zeit und Raum


Wenn ich auf die Straßenbahn warte oder beim Friseur in der Schlange sitze und nicht so ganz genau weiß, was ich tun soll (einem Gedanken nachgehen, um mich herum schauen, meditieren, träumen?) befinde ich mich in einer begrenzten Lücke der Zeit. Ich bin in einem Zustand der Unbestimmtheit, schwebe quasi zwischen Nichts und Allem, kann mich nicht zu einer (inneren oder äußeren) Tätigkeit entscheiden. Ich befinde mich gerade irgendwo, wo ich mich gerade nicht befinde.

Mit Lücken im Raum ist es nicht anders. In jeder Großstadt gibt es räumliche Lücken, die dadurch auffallen, dass sie „leer“ sind. Manche von diesen Lücken (zum Beispiel „Baulücken“) sind nur kurzfristig leer, wir gehen an ihnen vorbei und wissen, dass sie demnächst wieder gefüllt werden. Direkt neben meiner Wohnung in Köln gibt es so eine Baustelle: In der Leere arbeiten bereits Bagger, um einen Neubau vorzubereiten: 200 Wohnungen für Studenten sollen dort entstehen.

Es gibt allerdings auch ungeplante Lücken. Am Anfang der Beethovenstraße liegt zum Beispiel ein „Platz“, der jedoch kein „Platz“ ist, sondern eine unbestimmte „Fläche“, die einfach übrig geblieben ist; sie hat keine Identität, erinnert an ein Puzzlestück, das irgendwann einmal definitiv in einen Staubsauger verschwunden ist. Wenn man sich auf dieser Fläche aufhält, macht man das nur, um sich eine Zigarette anzuzünden.

An solchen Orten gehen wir meistens gedankenlos vorbei. An solchen Stellen herrscht das Gesetz der Unbestimmtheit: Dort wo sich in der Vergangenheit niemand etwas Bestimmtes ausgedacht hat, gibt es NICHTS, das heißt: Dort brauchen wir uns keine Gedanken zu machen. Oder anders gesagt: Wo nichts ist, dürfen wir schlafen. Hat man jedoch einmal seine Augen für solche Orte geöffnet, stellt man betroffen fest: Auch sie haben das Bedürfnis, wahrgenommen zu werden. Sie sind so ein bisschen wie Penner: Sie werden nicht beachtet, haben allerdings viel zu erzählen.

Um etwas mit Lücken – im Raum und in der Zeit – anfangen zu können, werden Gedanken gebraucht, die noch nicht gedacht wurden. Eine einfühlsame Bildhauerin könnte sich zum Beispiel auf die unbestimmte Leere am Anfang der Beethovenstraße einlassen und eine Statue realisieren, die der Leere einen Fokus und somit einen mutigen Sinn verleiht. (Ich würde dort eine Pieta hinstellen: eine unbestimmte Mutter mit dem Leichnam ihres gerade jung verstorbenen Sohnes auf dem Schoß.)

Lücken sind Orte, die nicht von den Diktaten der Vergangenheit regiert werden, sie sind geistige „Lichtungen“, Öffnungen nach oben und nach vorne. Um aus dem Schlaf zu erwachen und erst einmal „träumend“ auf solche Lücken zu schauen, ist Mut nötig. Sich ins Nichts zu begeben ohne Nichts zu werden, ist ein souveräner Kraftakt, der gerade nicht von bereits bestehenden Gedanken getragen wird.

Mut zu Lücken also... Über „Lücken“, die dadurch entstehen, dass Menschen sterben und ein „Loch“ hinterlassen, werde ich das nächste Mal schreiben.

20.06.2014

Ein neuer Anfang (2). Prolog und Epilog

In der Saturnsphäre (siehe unten) stehen Gegenstände nicht wie in einem Schaufenster, klingen Nachrichten nicht wie aus einem Lautsprecher, finden Ereignisse nicht wie in einem Stadion statt, sind Erzählungen nicht wie in einem Text festgelegt, beschränken Düfte sich nicht wie in einer Flasche und sitzen Menschen nicht wie in einem Bus.

Saturn erlaubt es den Dingen, den Meldungen, den Geschehnissen, den Wörtern, Worten und Begriffen, Gerüchen und menschlichen Körpern gerade noch erkennbare Erscheinungen zu sein, die sich in erkennbaren Zusammenhängen aufhalten, ja: gerade noch... In der Saturnsphäre hört langsam aber sicher die vertraute Überschaubarkeit des Lebens in Raum und Zeit auf.

Man kann sich dagegen wehren, klammert sich dann an seinem Kalender fest, verinnerlicht immer wieder die gleichen „Wahrheiten“, hält sich eventuelle Nachfolger vom Leib, schluckt Viagra und schreibt seine Memoiren, legt sich also darauf fest was augenscheinlich einmal war. Dieser Kampf ist allerdings bereits zu Beginn verloren, weil die Saturnkräfte nicht nur ein kleines bisschen mächtig sind. An den Wurzeln eines Baums hängt ja die ganze Erde.

Im Wirkungsfeld des großen Planeten erscheinen vor allem die konkreten Menschen wie komplexe Gestalten ohne feste Konturen; oh ja, sie haben noch ein Antlitz, einen Blick, einen unverwechselbaren Duktus, sie haben eben noch einen Eigennamen und ein Handy, sie weiten sich jedoch wie die letzten Ringe über die letzten Dinge aus (mit Dank an Rainer Maria Rilke). Würde lässt sich nicht fotografieren, Menschen im Wirkungsfeld des Saturns noch weniger. (Mit Dank an Bob Dylan.)

Das einzige literarische Format im Bereich des Saturns ist die Mischung von Prolog und Epilog: Schiebe Anfang und Ende ineinander und entzünde somit Erzählungen, die nur noch Ereignis sind, die sich quasi überflüssig machen, weil sie gerade im Geschehen sind. Das Urbild des saturnalen Erzählens ist wohl der beteiligte Fußball-Reporter, der „TOR!!!“ schreit, gerade in dem Moment, in dem der Ball über die weiße Linie saust. In anthroposophischen Fachbegriffen heißt das: In der Saturnsphäre wird „intuitiv“ gesprochen.

Ein neuer Anfang. Saturn in der Biographie

Im Lebenslauf melden sich ab dem 56. Lebensjahr immer stärker die Kräfte, die von dem Planeten Saturn ausgehen. Sie durchziehen unterschwellig die Untergründe der Seele und machen sich als tragende und entzündende Wärme bemerkbar. Diese Kräfte sind darauf angewiesen vom Bewusstsein her wahrgenommen zu werden; obwohl sie mächtig sind, drängen sie sich nicht auf, sie treten erst dann in den Vordergrund, wenn sie dazu eingeladen werden.

Mit der Wirkung des Saturn im Inneren des Menschen gehen drei Phänomene einher. Das Erste bezieht sich auf eine Verstärkung des Erlebens der Spannung zwischen Zeit und Ewigkeit. Die Ereignisse im Leben, die sich ja im Verlauf der Zeit ereignen, immer im Hier und Jetzt also, werden in ein Gespür der Ewigkeit eingebettet. Was klein und schmal erscheint – ich arbeite in meinem Garten, in diesem EINEN, MEINEM Garten – zeigt sich in der Sphäre des Saturn als groß und breit. Es ist, als ob ALLE Gärten, die es gibt oder je gab, in meinem Empfinden irgendwie leise mitschwingen. „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis“, schrieb Goethe dazu im Faust. Dieses Erleben wird von einer süß-bitteren Melancholie gefärbt.

Das zweite Phänomen hat damit zu tun, dass die Wärme des Saturn sich zwar als Grund des Lebens zeigt, sich allerdings nicht mit Füßen betreten lässt. Für das übliche Denken scheint sie eher ein Abgrund zu sein, eine maßlose Tiefe und Breite, die uns ungeheuerlich umschlingt. Um die Wärme tatsächlich als tragend erfahren zu können, muss man lernen, sich schwebend in die Wärme hinein zu begeben, nicht mit den Füssen also, sondern mit den Flügeln an unseren ätherischen Schultern. Das Schweben ist die große Fähigkeit des Älterwerdens, es ist die bewusste Umkehrung des unbewussten Daseins des kleinen Kindes, (das sich ja selbstverständlich tragen lässt).

Das dritte Phänomen ist am schwierigsten zu beschreiben. Es hängt mit einer subtilen Empfindung zusammen, die besagt, dass alles was wir denken, fühlen und tun nicht nur Wirkung einer Ursache, sondern auch Ursache einer Wirkung ist. Oder anders gesagt: In all unseren geistigen, seelischen und physischen Taten liegt eine „Entzündung“ verborgen, wir sind tatsächlich in jeder Sekunde dabei, die Welt neu zu gestalten, auch wenn wir es nicht merken. Oder noch wieder anders gesagt: In der Sphäre des Saturn erscheinen wir als „Götter“, die Welt geht ständig aus UNS hervor.

Saturn macht keinen Unterschied zwischen kleinen und großen Ereignissen. Saturn ist so groß, er räumt für alles einen großzügigen Platz ein. Die schöne Aufgabe der älteren Menschen liegt darin, quasi schweigend auf die Dinge des Lebens zu schauen und ihnen einen Platz zu geben, die kleinen Sachen des Lebens also groß zu machen, einfach dadurch, dass sie den Sachen die Aufmerksamkeit schenken, die sie brauchen, um überhaupt als Ereignis anerkannt zu werden. Und nein, niemand braucht damit zu warten, bis sie oder er 56 Jahre alt geworden ist. Saturn ist immer und überall da.

05.06.2014

Ein neuer Anfang (2). Prolog und Epilog

In der Saturnsphäre (siehe unten) stehen Gegenstände nicht wie in einem Schaufenster, klingen Nachrichten nicht wie aus einem Lautsprecher, finden Ereignisse nicht wie in einem Stadion statt, sind Erzählungen nicht wie in einem Text festgelegt, beschränken Düfte sich nicht wie in einer Flasche und sitzen Menschen nicht wie in einem Bus.

Saturn erlaubt es den Dingen, den Meldungen, den Geschehnissen, den Wörtern, Worten und Begriffen, Gerüchen und menschlichen Körpern gerade noch erkennbare Erscheinungen zu sein, die sich in erkennbaren Zusammenhängen aufhalten, ja: gerade noch... In der Saturnsphäre hört langsam aber sicher die vertraute Überschaubarkeit des Lebens in Raum und Zeit auf.

Man kann sich dagegen wehren, klammert sich dann an seinem Kalender fest, verinnerlicht immer wieder die gleichen „Wahrheiten“, hält sich eventuelle Nachfolger vom Leib, schluckt Viagra und schreibt seine Memoiren, legt sich also darauf fest was augenscheinlich einmal war. Dieser Kampf ist allerdings bereits zu Beginn verloren, weil die Saturnkräfte nicht nur ein kleines bisschen mächtig sind. An den Wurzeln eines Baums hängt ja die ganze Erde.

Im Wirkungsfeld des großen Planeten erscheinen vor allem die konkreten Menschen wie komplexe Gestalten ohne feste Konturen; oh ja, sie haben noch ein Antlitz, einen Blick, einen unverwechselbaren Duktus, sie haben eben noch einen Eigennamen und ein Handy, sie weiten sich jedoch wie die letzten Ringe über die letzten Dinge aus (mit Dank an Rainer Maria Rilke). Würde lässt sich nicht fotografieren, Menschen im Wirkungsfeld des Saturns noch weniger. (Mit Dank an Bob Dylan.)

Das einzige literarische Format im Bereich des Saturns ist die Mischung von Prolog und Epilog: Schiebe Anfang und Ende ineinander und entzünde somit Erzählungen, die nur noch Ereignis sind, die sich quasi überflüssig machen, weil sie gerade im Geschehen sind. Das Urbild des saturnalen Erzählens ist wohl der beteiligte Fußball-Reporter, der „TOR!!!“ schreit, gerade in dem Moment, in dem der Ball über die weiße Linie saust. In anthroposophischen Fachbegriffen heißt das: In der Saturnsphäre wird „intuitiv“ gesprochen.